90 Jahre Wuppertal Lindenberg trifft Honecker: Große Politik mit kleinen Gesten

Der 9. September 1987 ist als einer der vielleicht seltsamsten Tage in die Geschichte der Stadt Wuppertal eingegangen. Ost-Besuch gab es nicht sehr häufig, schon gar nicht so hochkarätigen.

 Udo Lindenberg überreichte Erich Honecker am 9. September 1987 vor den Augen der damaligen Oberbürgermeisterin Ursula Kraus eine Gitarre mit der Aufschrift „Gitarren statt Knarren“.

Udo Lindenberg überreichte Erich Honecker am 9. September 1987 vor den Augen der damaligen Oberbürgermeisterin Ursula Kraus eine Gitarre mit der Aufschrift „Gitarren statt Knarren“.

Foto: Kurt Keil

Für einen Tag hat Wuppertal im Zentrum der deutsch-deutschen Geschichte gestanden. Für einen Moment waren die Augen der Bundesrepublik auf Barmen gerichtet. Es war die Sekunde, in der Udo Lindenberg dem Staatsratsvorsitzenden der DDR, Erich Honecker, eine E-Gitarre überreichte. Sie trug die Aufschrift Gitarren statt Knarren. An jenem 9. September 1987 wurde am Geburtshaus von Friedrich Engels ein kleines Stück Geschichte geschrieben. Rocker West trifft Staatschef Ost und die Nation schaut zu. Es war der Höhepunkt einer ausgefeilten Imagekampagne – für beide Seiten.

Sein mehrtägiger Staatsbesuch führte Honecker an jenem 9. September für etwa acht Stunden nach NRW. Für den damals noch starken Mann des Arbeiter- und Bauernstaates bot es sich wie selbstverständlich an, Wuppertal zu besuchen, die Stadt, in deren Teil Barmen kein geringerer als Friedrich Engels geboren worden war. Eben jener Engels, der mit Karl Marx die ideologische Basis für den real existierenden Sozialismus geschaffen hatte.

Dass dieser Sozialismus überhaupt nicht funktionierte, wussten inzwischen viele. Umso wichtiger waren Honecker die Bilder seines Besuches im Westen. Sie sollten übertünchen, dass es in seinem Arbeiter- und Bauernstaat zunehmend zu brodeln begann. Die Planwirtschaft hatte sich längst als vollständig untauglich erwiesen, die Zahl der DDR-Bürger, die den Staat aus politischen Gründen verlassen wollten, stieg stetig. Das Paradies der Werktätigen entpuppte sich für viele mehr und mehr als Hölle.

Da traf es sich ganz gut, dass Udo Lindenberg seit Jahr und Tag darum kämpfte, in Ostdeutschland auftreten zu wollen. Das Konzert 1983 war keines. Das Publikum war von der Stasi handverlesen worden, vor dem Palast der Republik standen die echten Fans, die keinen Einlass gefunden hatten, das war nichts für Lindenberg, der sich gerade als musikalische Speerspitze der Friedensbewegung neu erfunden hatte. Dessen Werbetour gipfelte in Wuppertal. Und der Auftritt mit dem Panik-Rocker kam Honecker entgegen.

Mit all dem hatte die Stadt Wuppertal freilich nichts zu tun. Für sie galt es, dem hochrangigen Gast aus dem Osten die Gelegenheit zu geben, das Wohnhaus von Friedrich Engels zu besuchen. Die propagandistischen Nebengeräusche nahm die damalige Oberbürgermeisterin Ursula Kraus (SPD) mild lächelnd zur Kenntnis. „Davon habe ich aber nichts gehört“, quittierte Kraus nach dem Besuch Behauptungen des DDR-Fernsehens, Erich Honecker sei in Wuppertal mit Hochrufen begrüßt worden.

In diesen Zeiten war Wuppertal hochrangige Politik durchaus gewohnt. Der damalige Bundesaußenminister Hans-Dietrich Genscher (FDP) hatte über Jahrzehnte seinen Wahlkreis in der Stadt, und NRW-Ministerpräsident Johannes Rau (SPD) war ebenso bekennender wie leidenschaftlicher Wuppertaler. Aber Erich Honecker erforderte mehr Aufwand als alle hochrangigen Westpolitiker zusammen genommen.

Für den Ost-Besuch wurde auf einem Gelände an der Wupper ein Hubschrauber-Landeplatz eingerichtet. Von dort aus führte vorübergehend eine Asphaltbahn zum Engelshaus. Das Sicherheitskonzept war so engmaschig, dass nicht einmal eine Maus hätte durchschlüpfen können. Nichts blieb dem Zufall überlassen, alles war minutiös geplant. Jeder Schritt war vorgegeben.

„Das lag mir so gar nicht“, sagte Ursula Kraus später. Die Oberbürgermeisterin nahm es ebenso gelassen hin wie den Spruch im Gästebuch des Engelshauses. Den hatte die DDR-Staatspropaganda einprägen lassen – ganz im Sinne der Selbstinszenierung des Arbeiterstaates: „Sein Werk ist in der Deutschen Demokratischen Republik Wirklichkeit und lebt in unserem Wirken für einen sicheren Frieden in der Welt und für das Wohl und das Glück der Menschen in unserem sozialistischen deutschen Staat fort.“ Friedrich Engels hätte sich vermutlich im Grabe umgedreht.

All das ist Geschichte. Gut drei Jahrzehnte später arbeitet Wuppertal daran, Engels, den großen Sohn der Stadt, zu dessen 200. Geburtstag gebührend zu feiern und dabei abseits aller DDR-Glorifizierung zu präsentieren. Das Historische Zentrum wird für Millionen von Euro hergerichtet. Es zeichnet die Geschichte der Industrialisierung Barmens, Elberfelds und in der Folge des gesamten europäischen Festlandes nach. Das Engelshaus wird renoviert. Im Erdgeschoss soll eine Dauerausstellung an den berühmten einstigen Bewohner erinnern. Das Geburtshaus des wohlhabenden Fabrikantensohnes und Philosophen stand etwa 100 Meter entfernt. Es wurde im Zweiten Weltkrieg zerstört und nicht wieder aufgebaut.

Auf dem damaligen Hubschrauber-Landeplatz steht heute die Gesamtschule Barmen.

Alt-Oberbürgermeisterin Ursula Kraus lebt heute im DRK-Schwesternwohnheim und nimmt am Werden ihrer Stadt regen Anteil.

Udo Lindenberg ist immer noch Udo Lindenberg, hat sich als eine Art Chansonier mittlerweile zum wiederholten Male selbst neu erfunden und im vergangenen Jahr damit aufhorchen lassen, es vielleicht auch mal in der Politik versuchen zu wollen – als Bundespräsident.

Erich Honecker hat den von ihm über Jahrzehnte mitgeprägten Arbeiter- und Bauernstaat im real existierenden Sozialismus noch einige Jahre überlebt. Er starb am 29. Mai 1994 im Exil in Santiago de Chile.