Nicht oder, sondern und
Bei all dem Ungemach, Streit und Stillstand, bei der Kleinmütigkeit und Unentschlossenheit, die Rat und Verwaltung viel zu häufig an den Tag legen, entspannt es bisweilen, an die Dinge zu erinnern, die Wuppertal einzigartig machen.
Und das sind längst nicht nur die Schwebebahn und die Nordbahntrasse.
Seit ein paar Monaten blüht das Pina-Bausch-Ensemble in seiner Heimatstadt regelrecht auf. Mit der neuen Intendantin ist Offenheit in das Tanztheater gekommen, das Wuppertals Ruf nun schon seit mehr als vier Jahrzehnten auf allen Kontinenten dieser Erde mehrt. Lange Jahre war davon in Wuppertal selbst nicht viel zu spüren. Aber plötzlich und sicher nicht zuletzt dank Adolphe Binder findet das Ensemble eine ganz neue, frische Bindung zu Wuppertal. Workshops und öffentliche Proben verschaffen dem Tanztheater viele neue Freunde. Neue Stücke beweisen, dass die Signale auf Zukunft gestellt sind.
Wer beispielsweise das Glück hatte, im Opernhaus die Wiederaufnahme des Stücks „Die sieben Todsünden“ mitzuerleben, der hat gefühlt, wie viel Leben und wie viel Mut und wie viel Hingabe zum Erbe von Pina Bausch in den Frauen und Männern steckt. Und er hat erlebt, wie sehr das Publikum all das nachempfinden kann. Es gibt nicht sehr viele Städte auf der Welt, in denen Menschen für ein Kulturereignis Schlange stehen, es gibt nicht sehr viele Kulturereignisse, für die Menschen lange Fahrten mit dem Auto oder der Bahn auf sich nehmen und vermutlich bereit wären, jeden Preis zu bezahlen, um an eine Karte zu kommen. Wuppertal hat so ein Ereignis.
Wer jemals im Zweifel war, ob das Tanztheater Pina Bausch zu Wuppertal gehört, ob es richtig ist, dem Ensemble und dem Drumherum für sehr viel Geld an der Kluse ein Zentrum zu bauen, dem sei der Besuch eines Stückes dringend empfohlen.
Dennoch zaudern und zagen gerade in der Lokalpolitik und bis an deren Spitze viele ob der gewaltigen finanziellen Anstrengungen, die mit dem Tanztheater und dem Zentrum Jahr für Jahr verbunden sein werden. Sie stellen Fragen: Wollen wir das Tanzzentrum oder Kindergärten? Wollen wir das Tanzzentrum oder Schulen? Diese Fragen sind ausnahmslos falsch gestellt. Es geht nicht um „oder“, es geht um „und“. Wuppertal braucht Kindergärten, Wuppertal braucht moderne und genügend Schulen. Aber Wuppertal braucht auch Kultur. Sonst geht Wuppertal vor die Hunde.
Deshalb sollten sich die Zweifler und Zauderer dem Protest der Kommunen gegen die Unterfinanzierung von Städten und Gemeinden anschließen. Sie sollten nicht nur in Wuppertal ihre Bundestagsabgeordneten jeden Tag daran erinnern, dass sie in Berlin die Interessen der Städte und Gemeinden zu vertreten haben und nicht die des Bundes und der Länder. Wuppertal ist eine Stadt mit 360 000 Einwohnern. Wuppertal ist eine Stadt mit einem Jahresetat in Höhe von 1,3 Milliarden, also 1300 Millionen Euro. 65 Millionen Euro davon sind die sogenannte freie Spitze für Ausgaben, die eine Stadt nicht unbedingt leisten muss. Dazu zählen Theater, Orchester, Tanztheater, der Zoo, teilweise die VHS, die Förderung der freien Kulturszene, die Förderung von Sportvereinen. Mit anderen Worten: Für die Dinge, die eine Stadt lebenswert machen, für Angebote, die eine Stadt attraktiv machen, für solche Dinge stehen Wuppertal jedes Jahr pro Kopf 180 Euro zur Verfügung. Das ist der Gegenwert eines Kinobesuches pro Monat. Das ist ein Skandal. Das muss sich ändern. Wenn Städte wie Wuppertal aber immer „oder“ sagen statt „und“, bleibt es nicht einmal, wie es ist. Es wird schlechter. Deshalb ist die Anstrengung für das Pina Bausch Zentrum, für Theater, Orchester, Kultur schlechthin ein Kampf um die Zukunft dieser Stadt.