Nur die halbe Wahrheit
Vermutlich unter „ferner liefen“ wird der Stadtrat am Montag das Positionspapier „Wuppertal — eine wachsende Stadt“ zur Kenntnis nehmen. Das wäre allerdings ein bisschen schade. Denn dieses Papier aus dem Geschäftsbereich des Sozialdezernenten Stefan Kühn (SPD) ist eine hervorragende Grundlage für alles, was der Stadtrat in den nächsten Jahren bedenken, bereden und entscheiden muss.
Die Verwaltung hat haarklein und fundiert aufgeschrieben, was in den vergangenen Jahren mit und in Wuppertal geschehen ist. Die „wachsende Stadt“ steht demnach vor immensen Herausforderungen. Denn sie wächst nicht in allen Bevölkerungsschichten gleichmäßig. Sondern nach Wuppertal kamen und kommen Menschen auf der Flucht vor Krieg und bitterer Armut. Dass es dabei mehr Zuwanderung aus EU-Staaten wie Polen, Rumänien, Italien und Griechenland gab, ist ein wichtiger Hinweis an alle jene, die meinen, diese Stadt werde von Flüchtlingen aus dem arabischen Raum überfordert, um daraus auch noch politisches Kapital zu schlagen.
Letztlich macht es aber auch keinen großen Unterschied, woher die Menschen kommen, die der Hilfe Deutschlands bedürfen. In jedem Fall sind es viele im Alter von 18 bis unter 60 Jahren, die vielleicht irgendwann einmal eine Arbeitsstelle finden wollen. Und es sind Familien mit Kindern, die zunächst einen Betreuungsplatz und dann einen Platz in der Schule benötigen.
Arbeit, Kinderbetreuung, Schule — das sind die Aufgaben, vor denen Wuppertal heute schon und in den nächsten Jahren steht. Und es sind allesamt Aufträge, die es weitgehend selbst erledigen muss. Auf durchgreifende Hilfe von Bund und Land zu hoffen, war in der Vergangenheit vergebens und wird auf sichtbare Zeit ein frommer Wunsch bleiben. Den Politikern in Berlin und Düsseldorf ist das Hemd näher als der Rock. Und es hat sich in den vergangenen Jahren als sehr komfortabel erwiesen, den Menschen von Berlin aus Geschenke zu machen und die Städte dafür bezahlen zu lassen.
Das Positionspapier „Wuppertal — eine wachsende Stadt“ beschreibt mithin in ungewöhnlich hoher Qualität die politische Agenda der nächsten Jahre. Wuppertal steht vor einer Herkulesaufgabe.
Dabei beinhaltet das Papier aus dem Geschäftsbereich Soziales, Schule, Jugend und Integration nur eine Hälfte der Wahrheit. Die andere Hälfte fehlt fast vollständig. Sie gehört auch nicht unmittelbar in den Fachbereich des Sozialdezernenten.
Gäbe es in der Spitze des Rathauses jemanden, der sich um Wirtschaft und Arbeit kümmert, dann müsste er die andere Hälfte des Berichtes schreiben. Denn wie soll eine Stadt auf die Dauer funktionieren, die sich allein auf Wohlfahrt und den Ausgleich von Defiziten einer bestimmten Gruppe in der Bevölkerung konzentriert? Wer kümmert sich um die Teile der Bevölkerung, die der Hilfe nicht bedürfen, sondern mit ihrer Arbeitsleistung vielmehr dazu beitragen, dass Städte sich um Bedürftige kümmern können? Das lokale Kulturangebot, Freizeiteinrichtungen und eine lückenlose Bildungs-Infrastruktur sind wichtige Standortfaktoren, die auch in Zukunft nicht außer Acht gelassen werden dürfen. Zur Bevölkerungsprognose für Wuppertal gehört außerdem zwingend auch die Studie, welche die Quartiers-Entwicklungs-Gesellschaft WQG in Auftrag gegeben und zuletzt unerklärlich zurückhaltend veröffentlicht hat. Aus dieser Untersuchung geht hervor, dass Wuppertal in den vergangenen fünf bis sieben Jahren zwar um 15 000 Einwohner gewachsen ist. Im selben Zeitraum haben aber tausende von Wuppertalern die Stadt verlassen, um sich im Kreis Mettmann, vor allem aber im Ennepe-Ruhr-Kreis anzusiedeln. Warum? Weil sie ausgerechnet in einer historischen Niedrigzinsphase in Wuppertal kein Grundstück für das Eigenheim, kein passendes Haus oder keine altengerechte Wohnung gefunden haben. Mit diesen Menschen verlassen Steueraufkommen und Kaufkraft die Stadt. Sehr zum Nachteil einer gesunden Bevölkerungsstruktur.
Deshalb ist es schon sehr verwunderlich, dass die Verwaltung für Montag eine Beratungsvorlage zurückgezogen hat, in der es um den längst überfälligen Auftrag von SPD und CDU ging, potenzielle Baugrundstücke in Wuppertal zu identifizieren.
Während Stefan Kühn und seine Mitarbeiter ganz offensichtlich erkannt haben, worauf es in ihrem Arbeitsfeld in den nächsten Jahren ankommt, herrscht in Wirtschafts- und Stadtentwicklungsfragen beunruhigende Funkstille. Wenn sich das nicht bald ändert, mögen sich viele engagierte Menschen noch so viele Projekte und Konzepte zur Integration von Zugezogenen ausdenken. Nur gibt es dann keine funktionierende Stadt mehr, in die diese Zugewan- derten inte- griert werden können.