Streifzug Stadtgeschichte (2): An der Wiege der Industrialisierung
Wo Engels groß wurde und die Industrialisierung des Kontinents ihren Anfang nahm — ein Rundgang.
Unterbarmen. In ihren dunkelsten Tagen hieß sie Adolf-Hitler-Straße — doch auch jenseits der Nazi-Diktatur blickt die heutige Friedrich-Engels-Allee auf eine bewegte Geschichte zurück. Auf einer historischen Wanderung durch die Viertel an der ehemaligen Prachtallee ermöglichte Stadtführer Frank Khan Einblicke hinter Fabrik-, Kirchen- und Hausfassaden — und dokumentierte so eindrucksvoll den Aufstieg und Niedergang des Barmer gesellschaftlichen Lebens in den vergangenen Jahrzehnten.
Ein Brennpunkt der Wuppertaler Geschichte und zugleich Ausgangspunkt unseres Streifzuges: der Engelspark. Einstmals hieß der Brucher Rotte (Rotte = feuchte Stelle), und hier blich das Garn der Bleicher — ehe die Unternehmerdynastie Engels dort fünf repräsentativer Häuser im Bergischen Dreiklang (schwarzer Schiefer, weiße Fensterrahmen, grüne Schlagläden) erbaute. Das heutige Haus Nummer 10 ließ Johann Caspar Engels, der Großvater des berühmten Friedrich, 1775 erbauen, nachdem 1747 an den Ufern der Wupper die erste Bleichermanu-faktur gegründet wurde. Damit war Unterbarmen einer der Ausgangspunkte der gesamten Industrialisierung auf dem kontinentaleuropäischen Festland — und gegen die Missstände dieses Frühkapitalismus zog Friedrich Engels später mit Karl Marx zu Felde, mit den bekannten welthistorischen Folgen.
Überquert man gleich um die Ecke die nach Engels benannte Allee, fällt die denkmalgeschützte Adlerbrücke, 1868 gebaut, ins Auge. An ihr trifft Industriemoderne auf Energiewende: Auf dem Dach der gleichnamigen Schwebebahnstation findet sich die größte Solaranlage der Wuppertaler Stadtwerke. Hinter Häuserfassaden am Oberdörnen versteckt sich der künstlich geschaffene Mühlenbach, der zu Zeiten, als die Wupper noch ein reißender Fluss war, die Mühlen mit Wasser versorgte. Nicht weit die ehemalige Elefanten-Apotheke am Unterdörnen — die ihren Namen übrigens bereits 30 Jahre vor Tuffis berühmten Wupper-Sturz getragen hatte.
In der nahegelegenen Wartburgstraße errichteten die Barmer 1846 das erste Gaswerk, das bis 1911 Firmen und Privatbetreiber mit Energie versorgte — heute ist der Ort Schauplatz einer gigantischen Altlasten-Sanierung. Risikotechnologie war das Gaswerk schon vor 1900: Auch aufgrund zahlreicher Unfälle im Werk gründeten Unternehmer aus Barmen und Elberfeld 1872 den Dampfkessel-Überwachungsverein — der erste seiner Art im Land und Vorgänger des heutigen Tüv Rheinland.
Große Namen der Industrie finden sich auf diesem Streifzug dicht an dicht — wie etwa die Firma Dahl, 1861 als Farbstoffproduzent gegründet und 1926 mit Wülfing fusioniert; einst das neuntgrößte Unternehmen der Weimarer Republik, oder die heute noch bestehende Tuchfabrik August Mohr. Im einstigen Wittensteinschen Haus dagegen, gegenüber dem Polizeipräsidium gelegen, befand sich einst die Keimzelle von Edmund Wittensteins Textilverdelungs-Unternehmen — heute hat Tatjana Cragg dort ihr Atelier.
Dass Unterbarmen entlang der Allee aber mehr zu bieten hat als Industrie- und Arbeitsgeschichte, verrät etwa das Geburtshaus von Ferdinand Sauerbruch — der berühmte Chirurg kam 1875 an der Wartburgstraße zur Welt. Damals wie heute imposant präsentiert sich die um 1830 fertig gestellte Unterbarmer Hauptkirche — 1600 Gläubige finden in dem Gotteshaus Platz, das nur dank üppiger Zuwendungen von Friedrich Engels senior — dem Vater des Philisophen — gebaut werden konnte und eines der bedeutendsten Werke der neoromanischen Kirchenarchitektur überhaupt. Mysterien ganz anderer Art wurden damals wie heute an der Friedrich-Engels-Allee 165 gepflegt — im Logenhaus, wo heute die Freimaurer der Loge „Hermann zum Lande der Berge“ residieren.
Eher die Schattenseiten des einfachen Lebens im Unterbarmen verrät noch heute die Hausnummer 185. „Auer Schule“, der Name der heutigen Gaststätte, kündet von Unterbarmens einst wichtigster Schule, 1751 gegründet — dort, im Hinterhaus wurden einst bis zu 200 Schüler gleichzeitig unterrichtet. Ein Aspekt, der zeigt: Die „gute alte Zeit“ galt damals längst nicht für alle.