Ein Besuch vor Ort Tag der Kinderhospizarbeit - ein kurzes Leben bis zum Sternenhimmel
Am Freitag ist der Tag der Kinderhospizarbeit. Sie bürgt dafür, dass die gemeinsame Zeit der betroffenen Familien auch Glücksmomente kennt — wie in Wuppertal-Burgholz.
Wuppertal. Das Namensschild an der Tür ist selbst gestaltet. Seit dem 18. Januar markiert es Helenas Zimmer. Carolin Kluge steht am Rand des viel zu großen Bettes, blickt auf ihre friedlich schlafende Tochter und sagt: „Sie macht es einem sehr leicht, sie zu lieben.“ Am Kopfende bilden Buchstabenfähnchen Helenas Namen, erste Stofftiere verteilen sich auf der Liegefläche. Die Kleine ist knapp sechs Wochen zu früh geboren, zum Sessionsauftakt am 11. November, in der Karnevalsstadt Düsseldorf. Aber mitten im Trubel von Hoppeditz-Erwachen wird sie nie feiern können. „Die durchschnittliche Prognose liegt bei fünf Monaten, und die meisten überleben das erste Jahr nicht“, sagt ihre Mutter.
Helena ist ein Trisomie-18-Kind. Das dreifach vorhandene 18. Chromosom hat einen Herzfehler verursacht und die Lippenkieferspalte, die Atmung muss immer wieder durch zusätzliche Sauerstoffzufuhr unterstützt werden. Doch als erstmals der Verdacht beim zweiten Ultraschall-Screening während der Schwangerschaft auftauchte, stand eine Abtreibung nie zur Diskussion — auch wenn der Schock groß war. „Man plant den Traum von einer normalen Familie“, sagt Carolin Kluge. „Und jetzt lernt man, dass man das Wichtigste nicht kontrollieren kann.“
Zwei Monate hat die 31-jährige Psychologin mit ihrer Tochter in der Uni-Klinik Düsseldorf verbracht, ehe sie Mitte Januar im Bergischen Kinder- und Jugendhospiz Burgholz in Wuppertal einziehen konnte. Das heißt nicht, dass Helena sich schon in ihrer letzten Lebensphase befindet. Familien können die Kinderhospizarbeit in Anspruch nehmen, sobald bei ihrem Kind eine lebenszeitverkürzende Krankheit oder Behinderung diagnostiziert ist. Helenas Zeit im Hospiz dient als Überbrückung, bis der beantragte 24-Stunden-Intensivpflegedienst steht und die junge Familie ab Anfang März das gemeinsame Leben zu Hause in Neuss erproben will.
Wohlfühloase inmitten der Tristesse
Ausgelassenes Gekicher dringt aus dem Aktivraum. Joel (11), seine kleine Schwester Sunny (4) und Pflegefachkraft Christina Vogel tollen zu dritt in einem großen Sprungtuch. Im Snoezelraum nebenan ist dagegen alles auf Tiefenentspannung ausgerichtet: Ein Wasserbett, Lichtelemente und Musik sprechen alle Sinne an. Das erst knapp zwei Jahre alte Kinderhospiz Burgholz, am Rande des gleichnamigen Naturschutzgebietes auf dem Gelände eines ehemaligen Kinderheims entstanden, wirkt selbst bei grau verhangenem Himmel wie eine Wohlfühloase inmitten der Tristesse. Und genau so ist es auch gedacht.
„Es geht nicht nur um das Ausschlafen“, sagt Leiterin Merle Fells. „Sondern die Eltern können hier eine schöne Zeit mit ihrem Kind verbringen.“ Einmal nicht jede Nacht mehrfach aufstehen, einmal nicht die anstrengende Pflege und Ernährung übernehmen, einmal zumindest ein Stück des Verantwortungsgefühls loslassen können. Manche Mutter ist durch die Erkrankung ihres Kindes zwangsläufig zur Pflegemanagerin geworden. In einem Fall hat das Hospiz beispielhaft die nötigen Außenkontakte wegen der Erkrankung aufgezeichnet — von der Krankenkasse über die Ärzte bis zu den Therapeuten. Am Ende waren 44 Kontaktpartner zusammengekommen.
„Jetzt lernt man, dass man das Wichtigste nicht kontrollieren kann.“
Carolin Kluge (31), Mutter
„Bis 2013 habe ich nicht verstanden, was Hospizarbeit bedeutet“, sagt Renata Schemmerling. Da war ihr Sohn Dorian schon 14 Jahre alt. Bis heute weiß man nicht genau, welches Syndrom seine schwere Hirnfehlbildung verursacht hat. Er ist taub und inzwischen auch fast blind. Dann kam der seelische Einbruch bei seiner Mutter — eine Blockade, ihn zu pflegen: „Ich konnte mein Kind vom Kopf her nicht mehr heben.“ Innerhalb von 24 Stunden organisierte der Caritas-Hospizverband einen Aufenthalt in Deutschlands erstem Kinderhospiz in Olpe.
Heute ist Dorian volljährig. Und seine Mutter hat gelernt, dass ein Kinderhospiz nicht in erster Linie ein Ort des Sterbens ist, „sondern des Wohlbefindens, der Familie, des Teilens“. Ja, auch die Sorgen und Ängste werden geteilt, nicht abgegeben. „Aber schon das entlastet mich.“ Denn da draußen können zu wenige verstehen, was es bedeutet, jeden Morgen mit der Ungewissheit wach zu werden: „Was erwartet mich?“
Inzwischen gehören Dorian und sie zu den lange vertrauten Gesichtern in Burgholz. Dreimal im Jahr ziehen sie hier ein. Die 46-Jährige nutzt wenn möglich eine der Themenwochen wie im vergangenen Jahr die Mütterwoche. Da gab es einen Koch- und einen Yogakurs und dazu eine Farbberatung. Dinge, für die sonst keine Zeit bleibt. Aber das Hadern und die Frage nach dem Warum hat die Mutter längst aufgegeben. „Unsere Aufgabe ist es, Dorian liebevoll auf seinem Weg zu begleiten, jetzt zusammen mit dem Hospiz Burgholz.“ Wie lange, das kann niemand sagen. Man sieht die Verschlechterung, wenn sie da ist. Wann die nächste kommt, weiß man nicht.
Dorians Baumscheibe ist schon gestaltet. Im Flur hängt sie neben vielen anderen. Eine Krone ist darauf geklebt. Und unter seinem Namen steht: „Die Liebe denkt man nicht. Die Liebe ist.“ Die Baumscheibe zählt zu den Spuren, die bleiben werden, wenn das Leben gegangen ist. Darum scheuen manche Familien auch noch davor zurück, sich etwas zu überlegen. Carolin Kluge zählt nicht dazu. Auf Helenas Scheibe hat sie notiert: „Tapfere kleine Kriegerin“.
Zehn Plätze für Kinder und ihre Familien
Zehn Plätze für Kinder und Jugendliche zwischen null und 27 Jahren bietet das Wuppertaler Hospiz. Aber insgesamt 250 Familien werden betreut. Und die Zusage gilt, dass die Türen immer offen stehen, wenn eine akute Notsituation eintritt. Dann müssen die anderen Gäste vielleicht einmal zusammenrücken oder eine Familie wird gebeten, ihren Aufenthalt zu beenden. „Ich habe vor Burgholz schon dreieinhalb Jahre im Kinderhospiz in Düsseldorf gearbeitet“, sagt Merle Fells. „Und ich habe noch nie erlebt, dass eine Familie gesagt hat, sie reise nicht ab. Denn im Grunde wissen alle, dass sie in einem Boot sitzen.“
Und alle wissen, dass die Inanspruchnahme niemals am Geld scheitern soll. Für die erkrankten Kinder zahlen die Kranken- und Pflegekassen den Aufenthalt bis zu 28 Tagen. Die Kosten für die Eltern und gesunden Geschwister werden über Spenden gedeckt. Die Kinderhospiz-Stiftung, so Geschäftsführerin Kerstin Wülfing, verfügt über kein großes Stiftungskapital, sondern muss sich Jahr für Jahr wieder um Spenden für den laufenden Betrieb bemühen. Gerade heute startet eine Verdopplungsaktion der Bethe-Stiftung: Der Betrag aller bis Ostern eingelaufenen Spenden wird von ihr noch einmal verdoppelt.
Im Abschiedsbereich kehrt mit der Trauer das Leben zurück
Am Ende des langen, aufsteigenden Verbindungsgangs zwischen den fünf Hospiz-Gebäuden liegt der Abschiedsbereich. Die Luft ist kühl, es riecht unbewohnt. Wenn ein Kind gestorben ist, kann es hier bis zu sieben Tage aufgebahrt werden, um der Familie den Abschied zu ermöglichen — auch wenn der Tod nicht im Hospiz selbst eingetreten ist. 25 der betreuten Kinder und Jugendlichen sind seit der Eröffnung im März 2015 gestorben. Aber wenn hier Erinnerungsfotos aufgestellt und Kerzen angezündet werden, kehrt zusammen mit den Angehörigen auf gewisse Weise das Leben zurück. „Die Kinder sind auch in ihrem Tod nicht allein“, sagt Leiterin Fells.
„Das Kinderhospiz ist ein Ort des Wohlbefindens, der Familie, des Teilens.“
Renata Schemmerling (46), Mutter
Kein Platz für Kitsch, das war ihr wichtig. Die Raumwirkung ist dezent, aber warmherzig. „Himmel — Sterne — Endlichkeit“ waren die Leitbegriffe für die Gestaltung. Für jedes verstorbene Kind baumelt ein Erinnerungsstern im Abschiedsraum, ein Teakholzstern wird nach dem Tod draußen auf dem Platz der Begegnung in den Boden eingelassen. Und über dem Totenbett deutet eine künstlerische Deckenlampe den Sternenhimmel an.
Anfang Januar war einer der betreuten Jungen mit seiner Schulklasse hier. Der Besuch war dem 14-Jährigen wichtig, er wollte das ihm so gegenwärtige Thema Tod bei seinen Schulkameraden nicht länger verschweigen. Schon beim ersten Hospizbesuch vor zwei Jahren war er mit dem Rollstuhl durch die Räume gefahren und hatte danach entschieden: „Ja, Mama, hier kann ich mir vorstellen zu sterben.“