Wuppertaler Stadtgeschichte Tausende Stare störten die Friedhofsruhe
Besucher des Friedhofs Hochstraße fühlten sich in den 1990er Jahren an Hitchcocks Film „Die Vögel“ erinnert. Ein riesiger Schwarm hatte sich dort angesiedelt.
Der Anruf ging im Spätsommer 1991 in der Redaktion der WZ ein: „Fahren Sie doch mal abends zum Friedhof an der Hochstraße, da spielen sich unglaubliche Szenen ab. Da geht es zu wie bei Hitchcocks Film mit den Vögeln.“ Hitchcock, Friedhof, Vögel - eine Kombination, die geeignet ist, um Reporter neugierig zu machen. Und so machte sich ein kleines Team der WZ mit zwei großen Regenschirmen bewaffnet kurz vor der Dämmerung auf den Weg, um dem Phänomen auf die Spur zu kommen. Es wurde ein unvergessliches Erlebnis.
Wie aus dem Nichts tauchten am Himmel tausende Vögel auf, die sich zu einer immer größeren Wolke formierten. Wie ein einziger Organismus breitete sich der Schwarm aus, ballte sich zusammen, vollführte halsbrecherisch aussehende Flugmanöver. Mal zog sich das Gebilde wie ein Schlauch auseinander, dann bildete sich eine Kugel, die zu implodieren schien. Wie ein Schwarm Fische im Meer bewegte sich der Vogelschwarm in absoluter Harmonie am Himmel über Elberfeld.
Der fünf- bis zehnminütigen spektakulären Flugshow folgte ein Inferno. Jedenfalls empfanden die WZ-Reporter das so. Die Vögel setzten zur Landung an und ließen sich in Massen auf die Bäume fallen. Nun war es allerhöchste Zeit, die Schirme aufzuspannen, denn die Exkremente der Tiere regneten geradezu von den Bäumen herab. Grabsteine und Gräber waren schon von Vogelkot bedeckt. Ein Grund, warum die Besucher des Friedhofs an der Hochstraße um Hilfe gerufen hatten.
Bei den Vögeln handelte es sich um Stare. „Dem Schwarm gehörten weit mehr als 5000 Tiere an“, erinnert sich der Wuppertaler Ornithologe Rainer Mönig. Da es nicht genug Platz für sie an der Hochstraße gab, bildeten sich weitere kleinere Schwärme, die auf den Wall auswichen. Die Bäume dort wurden später im Zuge des Umbaus der B 7 gefällt. „Auf dem Wall waren die Menschen wochenlang in den Abendstunden nur noch mit Regenschutz unterwegs“, erinnert sich WZ-Fotograf Kurt Keil.
Erste Versuche, die Stare aus ihrem Revier an der Hochstraße zu vertreiben, scheiterten kläglich. „Das hat mich damals nicht überrascht. Durch einen Böller lassen sie sich nur ein- oder zweimal aufschrecken. Beim dritten Mal wissen diese schlauen Vögel, dass sie nicht gemeint sind und sitzenblieben können“, sagt der Vogelexperte, der damals die städtischen Gremien beriet. Die Beschwerden über den Vogelkot auf Gräbern, Gehwegen, Autos und den Straßen häuften sich. Schnelle Lösungen mussten her. Da es die nicht gab, wahrte man den Schein. So wurde eine Lautsprecheranlage aufgebaut, die Signale aussandte, die für Stare angeblich sehr unangenehm waren. Ein „Spezialfrequenzgerät“ kam zum Einsatz und nach einigen Wochen waren die Stare ausgeflogen.
Über dieses vermeintliche Ende der Geschichte muss Rainer Mönig auch heute noch schmunzeln. Er hat große Zweifel daran, dass das Frequenzgerät auch nur einen Vogel vergrämt hat. „Der Star ist ein Wandergesell und er ist wie in jedem Jahr freiwillig in Richtung Süden aufgebrochen. Stare waren vor 30 Jahren im Bergischen überall weit verbreitet. Heute würde sich so etwas nicht mehr ereignen.“
Als Höhlenbrüter ziehe der Star seine Jungen mit Insekten auf. Sind die Jungvögel flügge, stellen die Stare Ernährung und Stoffwechsel auf vegetarisch um, fressen hauptsächlich Obst. Im Herbst bilden sich Gemeinschaften, bevor der Vogelzug beginnt. Die Hinterlassenschaften an der Hochstraße entsprachen dem Speisezettel der Stare, auf dem Holunder und andere Beeren nach der Brut ganz oben stehen.
„Es ist faszinierend, welche Schwarmintelligenz sie entwickeln. Solch exakte Flugmanöver von tausenden Tieren in dieser Geschwindigkeit wären uns Menschen nicht möglich. Leider ist der Star inzwischen auf der Vorwarnliste der gefährdeten Vögel gelandet“, sagt der Naturschützer. In Solingen will Mönig zehn Starenkästen am Waldrand aufstellen. Ganz in der Nähe einer beweideten Wiese, wo die Stare Nahrung für die Aufzucht ihrer Jungen finden könnten. Dass sich in Wuppertal noch einmal weit mehr als 5000 Vögel formieren, um gemeinsam auf die große Reise zu gehen, sei höchst unwahrscheinlich. An den Stellen, wo sich einst Vogelschwärme bildeten, ist längst Friedhofsruhe eingekehrt.