Begrabt mein Herz in Wuppertal Gesunder Junge – Zahlung eingestellt

Uwe Becker über Kindheitsängste und einen enttäuschenden Brief.

Uwe Becker, 1954 in Wuppertal geboren, ist Chefredakteur des Wuppertaler Satiremagazins Italien und Mitarbeiter des Frankfurter Satiremagazins Titanic. Jeden Mittwoch schreibt er in der WZ über sein Wuppertal.

Foto: Joachim Schmitz

Normalerweise macht man sich als kleiner Junge keine Gedanken über das Sterben. Ich erinnere mich aber an eine Situation, die mich damals so sehr verängstigt hatte, dass ich Trost bei meiner Mutter suchte. Auf dem Weg zu einem Spielkameraden, der über die Loher Straße in Barmen führte, fiel mir das Werbeschild einer Versicherung ins Auge: „Kindersterbekasse Hoffnung“. Ich weiß noch ganz genau, wie mir der Angstschweiß aus allen Poren trat und ich mich vor lauter Mutlosigkeit und Verzweiflung am liebsten direkt auf die Straße gelegt hätte, um sofort friedlich und für alle Zeiten einzuschlafen.

Natürlich habe ich das nicht getan, sondern fragte meine Mutter am Abend, warum es so eine Sterbekasse für Kinder gibt. Meine liebe Mutti beruhigte mich und meinte, ich sollte mir keine Sorgen machen, weil Kinder sehr selten sterben würden. Meistens nur durch Unfälle, wenn sie von einem Auto angefahren werden, weil sie vorher nicht nach links und rechts geschaut hätten oder unter die Straßenbahn geraten, „wie damals dein Freund Holger aus der Parallelklasse.“ Meine Mama zählte dann noch ein paar Möglichkeiten auf, die Kinder ums Leben bringen könnten, unheilbare Krankheiten, Flugzeugabstürze oder Hunger, wie in Afrika. Aber vor allem würden im Krieg sehr viele Kinder sterben.

Besonders beruhigt war ich jetzt natürlich nicht. In meiner Phantasie stürzte ich mit einem Flugzeug ab, dass mich als Kindersoldat in ein Krisengebiet bringen sollte. Ich überlebte zwar schwerverletzt und hungrig, aber an der Absturzstelle hätte mich dann erst ein Auto (Krankenwagen) und später eine Straßenbahn überrollt. Abgesehen davon wäre ich wohl wegen eines bösartigen Tumors in naher Zukunft eh verstorben.

In dieser Nacht tat ich wirklich kein Auge zu. Leider ging der Horror nach dem Aufstehen am Frühstückstisch direkt weiter. Meine Mutter wollte es mir am Vortag noch nicht sagen, damit ich nicht noch mehr Angst bekäme: „Ich habe bei dieser Kindersterbekasse direkt nach deiner Geburt, also vor knapp elf Jahren, mein Schatz, eine Versicherung abgeschlossen. Das ist nur für den Notfall, wenn mal was passiert, dann bekommen wir die Kosten für deine…äh, Beisetzung erstattet - der Beitrag ist mit zwei D-Mark im Vierteljahr auch sehr günstig! Beerdigungen sind nicht billig, die deines Großvaters hat uns über Tausend Mark gekostet. Papa verdient ja auch nicht so viel. Für deinen Bruder haben wir übrigens auch so eine Versicherung abgeschlossen.“

Der Vorteil der Versicherung wäre, meinte mein Vater, „Wenn du bis zu deinem 25. Lebensjahr nicht stirbst, bekommst du das angesparte Geld plus Zinsen ausgezahlt.“ Wenn man Kind ist, vergisst man zum Glück viele Sachen recht schnell. So machte ich mir schon am nächsten Tag keine Gedanken mehr über mein eventuell vorzeitiges Ableben im zarten Kindesalter oder über eine Versicherung, die mir vielleicht irgendwann einen dicken Sack Geld bescheren könnte. Tatsächlich bekam ich als junger Mann Post dieser Sterbeversicherung. Ohne den Brief vorher zu öffnen, kaufte ich mir bei meinem Lieblings-Feinkosthändler eine Flasche Champagner und eine Dose besten Kaviar. Am Abend legte ich eine weiße Tischdecke auf und zündete eine Kerze an, um meinen nicht mehr erwarteten Reichtum angemessen zu feiern. Wenn ich ehrlich bin, habe ich nicht wirklich an eine große Summe geglaubt. Noch beim aufgeregten Aufreißen des Briefes hoffte ich, der Geldbetrag, den mir die Versicherung überweisen wird, möge zumindest ausreichen, die Kosten für die französische Puffbrause und die Eier vom Stör zu decken.

Leider war dies nicht der Fall. Wie ich dem Schreiben entnahm, hatten meine Eltern die Zahlungen ohne mein Wissen bereits nach ein paar Jahren eingestellt. Ich glaube, sie sahen, wie prächtig und gesund ich heranwuchs und mich entwickelte, daher ging man wohl davon aus, dass ich nicht schon als Kind das Zeitliche segnen würde. Nun ja, Opfer eines tödlichen Autounfalls hätte ich schon werden können, dies war ja damals wohl auch ein Grund für den Abschluss der Versicherung. Mein Vater hatte allerdings zeitlebens ein kleines Laster, er besuchte ab und zu gerne Wettbüros. Ich schätze mal, er hat voll auf mich gesetzt.