Wandel durch Handel – das war über Jahrzehnte das Mantra nicht nur, aber vor allem der deutschen Wirtschaft und Politik. Irgendwann, so die Überzeugung, würde der stete wirtschaftliche Austausch mit autokratischen Regimen unweigerlich dazu führen, dass sich diese auch politisch und gesellschaftlich dem liberalen Modell des Westens öffneten.
Nicht nur jedoch, dass dieser Wandel weder in Russland noch in China jemals zu verzeichnen war – spätestens mit der aggressiven Art, in der der neue-alte US-Präsident die Abrissbirne gegen verlässliche Handelsbeziehungen auch unter nominell befreundeten Staaten schwingt, zeigt sich der historische Irrtum dieses Credos. Und die ganz auf den Export getrimmte bergische Wirtschaft ebenso wie die des ganzen Landes stehen vor einem Scherbenhaufen.
Dabei haben bereits lange vor den Zollschlachten eines Donald Trump die weltweiten Handelsbeziehungen einen Schwächeanfall erlitten: Der Anteil des globalen Außenhandels an der Wirtschaftsleistung, also die Summe aller weltweiten Exporte und Importe von Gütern und Dienstleistungen als Prozentsatz des Bruttoinlandsprodukts (die sog. „Handelsintensität“), stagniert spätestens seit der Weltfinanzkrise von 2008. Diese Kennzahl ist deswegen von Bedeutung, weil die einfache, absolute Wertsumme aller gehandelten Güter und Dienstleistungen in einem auf stetiges Wachstum getrimmten Wirtschaftssystem natürlich ebenfalls stetig wachsen muss; entscheidend ist, wie hoch der Anteil dieser Ex- und Importen an der Wirtschaftsaktivität insgesamt ist. Der Welthandel hat demnach lange vor der Trumpschen Ära die Dynamik eingebüßt, die ihm als angeblich naturgewaltige Triebfeder auch sozialen und politischen Wandels angedichtet worden war.
Zugleich jedoch ist auch die Wandel-Komponente in Misskredit geraten. Während einerseits Wladimir Putin erst die Krim annektiert und dann einen Krieg gegen die gesamte Ukraine entfesselt hat, ist der Europäischen Union zugleich verspätet aufgefallen, dass China zunehmend die Erlöse aus den stetigen Handelserträgen mit dem Westen in strategische Übernahmen von systemrelevanten Unternehmen auch in der EU reinvestierte, um sich so einen Einfluss in Europa zu verschaffen, der weit über den Europas in China hinausgeht. Und dennoch verbergen sich dieselben Wirtschaftskapitäne, die damals geradezu besoffen vom vermeintlich historischen Sieg des Liberalismus und unter dem Schlachtruf „Wandel durch Handel“ einerseits nach China drangen und andererseits kein Problem in einer Abhängigkeit von russischen Gasimporten sahen, heute hinter der Ausflucht, das habe ja niemand so kommen sehen.
Doch, wie immer haben das nicht Wenige. Und im Internetzeitalter auch leicht nachvollziehbar.
Bereits 2010 etwa schrieben der mittlerweile mit dem Nobelpreis ausgezeichnete Ökonom Daron Acemoglu und sein Kollege Pierre Yared: „...Globalisierung ist weder unvermeidlich noch unumkehrbar – sie ist eine politische Entscheidung. Die letzte Ära der Globalisierung wurde durch ... internationale Konflikte und die Weltwirtschaftskrise beendet“.
Insbesondere aber die ehemals vielfach so belächelten Politikwissenschaften warnten früh vor dem historischen Irrtum zu glauben, politische Regimes seien durch bloßen Handel zu verändern. So veröffentlichte 2020 unter anderen das Royal United Services Institute, das sicherheitspolitische Forschungsinstitut der britischen Streitkräfte, einen Beitrag mit dem Titel: „Germany’s China Policy of ‘Change Through Trade’ Has Failed“ – und war damit beileibe nicht allein. Und trotzdem blieben vor allem deutsche Ökonomen noch im Jahr 2022 davon überzeugt: „Wandel durch Handel funktioniert durchaus“ oder auch „Wandel durch Handel ist nicht obsolet geworden“ .
Der Irrtum bestand und besteht schlicht darin, dass viele Ökonomen und Unternehmenslenker nicht sehen (wollen), dass der Handel mit Autokratien diesen in allererster Linie Devisen zu ihrer eigenen Stabilisierung einbringt. Politikwissenschaftlerinnen wie Anne Applebaum dagegen legen bereits seit langem ihren Finger in diese Wunde; insbesondere die desaströse deutsche Politik, Putin durch Gasimporte zu beschwichtigen, stellt sich vor diesem Hintergrund schlicht als Ursünde dar. Gerade Deutschland blieb leider allzu lang von der Sinnhaftigkeit des Credos „Wandel durch Handel“ überzeugt, und dies parteiübergreifend. Die SPD hielt vor dem historischen Hintergrund von Willy Brandts „Wandel durch Annäherung“ geradezu störrisch daran fest; aber auch und in einer besonders kritischen Zeit die CDU, angeführt von Altbundeskanzlerin Angela Merkel. Das Dumme ist nur, dass Brandts Politik zwar unzweifelhaft die Gefahr eines Krieges zwischen den Blöcken reduzierte; dass aber der Wandel in den Ostblockstaaten mitnichten durch die deutsche Annäherung, sondern durch die zunehmende Rebellion der unterdrückten Menschen in den Staaten des Warschauer Paktes gegen ihre jeweiligen Regime herbeigeführt wurde. Diese Entwicklung maßgeblich auf das deutsche Tauwetter gegenüber Moskau und zumal die extensiven Energieimporte seit der Jahrtausendwende zurückzuführen, hieße, die eigene Rolle in diesem Geschehen maßlos überzubewerten. Eben diese Lesart schien sich aber als vermeintliche Erkenntnis in Deutschland festgesetzt zu haben.
Wenn überhaupt, so gilt also eher die umgekehrte These „Handel durch Wandel“: Handelsbeziehungen sind historisch traditioneller Teil einer strategischen Wirtschaftspolitik, die den Austausch mit befreundeten Staaten pflegt (solange sie befreundet bleiben…) und jenen mit systemischen Kontrahenten tendenziell eher einhegt, um diese Regime nicht durch ungewollten Technologie- und Ressourcentransfer auch noch zu stärken oder sich gar in deren Abhängigkeit zu begeben. Im Einklang mit dieser Kolumne vom 14. Juni des vergangenen Jahres ist das dann zwar keine eigentliche Deglobalisierung, wohl aber eine Reglobalisierung entlang neuer Parameter, die nicht zwingend ökonomischer Natur sind.