Erinnerung Warum die Anrichte bei Osterbergs zum Weihnachtsfest ein Loch bekam
Elberfeld · Hans Osterberg erinnert sich an Erlebnisse aus seiner Kindheit.
Wann immer im Tal Gottesfürchtiges geschieht, dann ist Hans Osterberg (76) nicht weit – sondern mittendrin, statt nur am Rande zusehend. Beim Martinszug saß er schon hoch zu Ross, kauerte aber auch als zerlumpter Bettler am Straßenrand. Er hilft mit bei Tiersegnungen oder schreitet würdig mit der Christengemeinde in der Himmelfahrtsprozession in Beyenburg. Papst Franziskus gratulierte er zusammen mit anderen Gläubigen und überreichte dem Heiligen Vater in Rom eine selbst entworfene Fahne. Und natürlich gehört er als liebenswürdiger, geduldig zuhörender Herr auch zur Gruppe der „gelben Damen“ im St.-Josef-Krankenhaus, dem „Kapellchen“, seiner zweiten Heimat.
Die „Omma“ kürzt
den Tannenbaum
Als damaliges „Hänsken vom Ölberg“ weiß er auch so allerlei Erstaunliches aus der Weihnachtszeit in seiner Kindheit oben vom Grünewalder Berg zu erzählen. Da gibt es zum Beispiel die beiden Christbaumgeschichten aus den Jahren kurz nach dem 2. Weltkrieg. „Wir hatten zwar einen Christbaum, aber keinen Ständer dafür“, erzählt der muntere Senior. „Frag‘ mal bei Kaufmann, ob die welche gekriegt haben“, wurde dem Jungen aufgetragen, in einem Laden in der Nachbarschaft vorbeizuschauen. Aber offenbar war kurz nach dem Krieg die Christbaumständer-Produktion noch nicht wieder angelaufen, sodass Klein-Hans mit leeren Händen zurückkam. Doch erstaunlicherweise stand der osterberg‘sche Baum schon wie eine Eins auf der Anrichte, einem damals gebräuchlichen Möbelstück. Des Rätsels Lösung: Hänskens Vater hatte in besagte Anrichte ein passendes Loch gebohrt und dem Baum dadurch die nötige Standfestigkeit verliehen. Zwar wurde der nadelnde Baum im folgenden Januar entsorgt, doch das Loch in der Anrichte erinnerte das ganze Jahr an das Christfest.
„In einem anderen Jahr kam eine Nachbarin zu meiner Omma“, wie Hans Osterberg im typisch Bergischen Dialekt sagt: „Sie fragte, ob sie nicht ein paar Tannenzweige für sie hätte.“ Und da Omma Osterberg ein großes Herz hatte, nahm sie ein großes Messer und säbelte von ihrem am Fenster stehenden Baum etliche Zweige ab, was Hänsken nun gar nicht gefiel. Der kleine Junge brach in Tränen aus.
„Omma, warum machst du den Baum kaputt?“ fragte er unter Tränen. „Jung, dat mach‘ doch nix. Den drehen wir einfach rum und tun die Seite ans Fenster“, hatte sie eine pragmatische Lösung. Und während der Baum vorne mit Kerzen, Kugeln und Lametta in stolzem Glanze erstrahlte, stand die schmucklos kahle Seite am Fenster. Weil die Schlagläden geschlossen waren, bemerkte auch von draußen niemand dem Baumfrevel.
Und bei der Nachbarin wurde gleichfalls heimelige Weihnachtsstimmung verbreitet. Da die meist zum zweiten oder dritten Advent gekauften Bäume in den kleinen Wohnungen keinen Platz hatten, wurden sie fachgerecht und (meist) absturzsicher außen am Fenster befestigt.
In einem späteren Jahr hatte man bei Osterbergs gar keinen Baum. „Macht nix, bei Hertie schmeißen sie die Bäume aus dem Fenster in den Hof. Da holen wir uns einen“, beruhigte ein Nachbar Vater Osterberg, der sich dann auf den Weg in die Stadt zu dem Kaufhaus machte. Und tatsächlich: Da wurde die zu Heiligabend nicht mehr gebrauchte Weihnachtsdekoration auf unkonventionelle Weise aus dem oberen Stockwerk entsorgt. „Allerdings waren die Bäume rund drei Meter hoch und wurden deshalb geteilt“, so Hans Osterberg. „Wir hatten den unteren Teil, und weil der mehr breit als hoch war, haben wir die breiten Zweige abgeschnitten, und mein Vater hat Löcher in den Stamm gebohrt und kleinere Zweige reingesteckt.“
1955 wurde Omma Osterberg, bei der ihr Enkel den größten Teil seiner Kindheit verbracht hatte, kurz vor Weihnachten so krank, dass sie das Fest im Krankenhaus, dem Kapellchen, verbringen musste. Das damals neunjährige Hänschen war natürlich unendlich traurig. „Kann der Junge Weihnachtslieder singen?“ wurde die kranke Großmutter von einer Krankenschwester gefragt. „Der kann dat“, sagte die Omma mit stolzem Blick auf ihren Enkel. Und so war der kleine Sänger über die Feiertage ein gefragter Künstler im Kapellchen. Von einem fahrbaren Harmonium begleitet, ging Hans von Station zu Station und brachte den bettlägerigen, schwer erkrankten Patientinnen und Patienten mit seiner klaren Knabenstimme textsicher Licht und Freude in die Krankenzimmer.
Dass da etliche Tränen der Rührung flossen, ist zwar nicht überliefert, aber auf jeden Fall mehr als wahrscheinlich.