Kirche in Wuppertal Erzählen heißt Erinnern
Der alte weiße Mann ist am Boden. Ihm gegenüber sitzt ein Kind. Die Augen aufmerksam aufgeschlagen lauscht es dem, was der alte weiße Mann da mit freundlicher Geste erzählt. Fast könnte man die Stimmen hören – so lebendig sitzen die beiden im Naturhistorischen Museum Wien da.
Eine ähnliche Szene mit weiblichen Protagonisten kann man im Neanderthalmuseum sehen. Irgendwann werden die Kinder selbst eine alte weise Frau oder ein alter weiser Mann geworden sein, die Wissen und Lebenserfahrungen an die Jungen weitergeben. In allen menschlichen Kulturen gibt es die vielfältigen Formen des Erzählens, die uraltes Wissen, Denken und Erkennen aufbewahren: Mythen, Geschichten, ja auch Gedichte und Lieder sind lebendige Wissensschätze, die von Generationen zu Generationen weitergeben werden. Dabei spielen die Großeltern oft eine wichtige Rolle. Jagd, Ackerbau, Sammeln – all das waren mühsame und zeitraubende Tätigkeiten der Eltern, während oft die Großeltern ihren Enkeln vom Leben erzählten und sie so auf die kommende Zukunft vorbereiteten. Was glauben Sie denn?
Erzählen heißt Erinnern. Das wurde gerade in diesen Tagen wieder deutlich, wenn der Befreiung von Auschwitz vor 75 Jahren gedacht wurde. Nichts kann das kaum vorstellbare Grauen und die unfassbare Unmenschlichkeit, die in Auschwitz Menschen durch Menschen erfahren, erlebt und erlitten haben, so erinnern und vergegenwärtigen wie die Erzählungen derer, die dem Hass und der menschenverachtenden Ideologie derer ausgeliefert waren, die sich selbst zu Herrenmenschen ernannten. Noch gibt es sie, die Lebenszeugen, die erzählen können – und es ist gut, dass ihr Zeugnis filmisch für nachkommende Generationen dokumentiert wurde, wie es etwa der Regisseur Steven Spielberg in der Shoah-Foundation getan hat.
Wie nötig das ist, zeigt die immer häufiger zu hörende Bemerkung, 75 Jahre seien eine lange Zeit; es müsse auch mal aufhören mit dem Erinnern. Wer so vergessen möchte, liefert sich einer selbstgewählten Dummheit aus. Eine Menschheit, die in der Vergangenheit so gelebt hätte, hätte die Höhlen wohl nie verlassen. Wer heute aufhört, sich durch Erzählen zu erinnern, ist auf dem besten Weg, in die Höhlen zurückzukehren.
Wie sehr sich das erinnerungslose Denken der Gegenwart wieder verdunkelt, zeigt nicht nur der Anschlag auf die Synagoge von Halle am 9.10.2019. Hat man denn nichts gelernt in diesem Land, das einst dichtete und dachte? Offenkundig sind manche nicht mehr dicht im Dach! Wie oft will man noch verleugnen, dass das Christentum, dessen sich man doch im Abendland so gerne rühmt, als Zweig auf den Stamm des Judentums aufgepfropft ist, wie der Apostel Paulus sagt: „Wenn du dich aber rühmst, sollst du wissen: Nicht du trägst die Wurzel, sondern die Wurzel trägt dich.“ (Römer 11,18)
Am 2.2. feiert die Kirche das Fest „Darstellung des Herrn“. Dann wird von Maria und Joseph erzählt, die nach jüdischem Gebot Jesus in den Tempel bringen, um ihn als Erstgeborenem Gott „darzustellen“. Dort treten Simeon und Hanna auf - ein alter weiser Mann und eine alte weise Frau. Sie geben ihr Lebenswissen weiter – nicht als Beharren in Vergangenem, sondern mit Blick auf eine Zukunft, in der das Leben bald ohne sie weitergehen wird. Simeon sagt: „Nun lässt du, Herr, deinen Knecht, wie du gesagt hast, in Frieden scheiden. Denn meine Augen haben das Heil gesehen, das du vor allen Völkern bereitet hast, ein Licht, das die Heiden erleuchtet, und Herrlichkeit für dein Volk Israel.“ (Lukas 2,29-32) Diese Erzählung erinnert, dass die Herrlichkeit bei Israel bleibt, jetzt aber auch die Nichtjuden erleuchtet. Wer daran rüttelt, löscht das Licht aus. Dann wird es dunkel in den Höhlen werden. Ihr Großeltern, erzählt euren Enkeln, was geschieht, wenn es dunkel wird und kein Stein mehr auf dem anderen bleibt. Um Himmels und des Lebens willen: Erzählt es um zu Erinnern!