Premiere Experimentaloper „Chaosmos“ beeindruckt

Wuppertal · Beim Anschauen und Zuhören der Premierenvorstellung blieben keine Wünsche offen.

„Chaosmos“ spielt in einem von der Außenwelt abgeschnittenen Logistikzentrum.

Foto: ja/JENS GROSSMANN

Düster ist der schmale Gang neben dem Eingang zum rechten Parkett. Hat man ihn hinter sich gebracht, wird jedem Gast eine durchsichtige Heftbox mit Noten in die Hand gedrückt. Nach ein paar Schritten auf der Bühne angekommen, werden diese gemäß aufgebrachtem Etikett an die dafür vorgesehene Stelle in einem Regal eingeordnet. Nachdem jeder Besucher einen Sitz an einem der drei Bühnenseiten gefunden hat, geht es los mit der Experimentaloper „Chaosmos“.

Wieder heißt es im Wuppertaler Opernhaus „on stage“. Das heißt, das Publikum befindet sich während der Vorstellung auf der Bühne, nimmt also ganz nah am Geschehen teil. Dieses Mal ist ein von der Außenwelt abgeschnittenes voll digitalisiertes Logistikzentrum aufgebaut, das in den Händen von Joe (Rike Schuberty) und Jay (Annemie Twardawa) als Picker und Stower liegt. Sorgsam scannen und sortieren sie von drei Rutschen eingehende und mit einem Gabelstapler abzutransportierende Pakete. Alles hat seine reibungslose Ordnung. Für das aufwändige Bühnenbild und die dazu passenden Kostüme sorgte Eylien König.

Besucher geben die
Abfolge der Kompositionen vor

Tja, doch dann geht alles schief, als sie neugierig geworden auf einem Karton das ihnen unbekannten Absenderland Dänemark lesen und ihn öffnen. Es schrillt, rote Alarmlichter gehen an. Nichts funktioniert mehr, Paketein- und ausgänge können nicht mehr richtig verarbeitet werden, das System stürzt zusammen. Picker und Stower sind total überfordert. Man sucht nach dem Zentralplan, findet ihn zuletzt. Joe und Jay verschwinden sofort in der Versenkung hin zum Ausgang, sich dabei fragend, ob es Dänemark wirklich gibt.

Übrig bleibt ein auf dem Boden verstreutes Chaos an Kartons. Dazu spielt das kleine Kammerorchester, bestehend aus Mitgliedern des Sinfonieorchesters Wuppertal, Töne von Johann Sebastian Bach in einer zufälligen Reihenfolge. Währenddessen versuchen Androiden, wieder Ordnung herzustellen. Soweit die Handlung.

Sie wird zwischendurch immer wieder unterbrochen, um die Thematik Ordnung und Chaos aus verschiedenen Blickwinkeln zu betrachten. Mit kritischen Texten (gesprochen und zusätzlich an die Wand geworfen) unterlegt, werden mittels exzellenter Videos die binäre Nomenklatur des schwedischen Naturforschers Carl von Linné, die wie mit dem Lineal gezogenen Landesgrenzen Afrikas zur Zeit des Kolonialismus und die logistisch perfekte Erfindung von Seecontainern während des Vietnamkriegs 1967 reflektiert. Damit wird der Frage nachgegangen, ob vordergründig vernünftige Methoden immer richtig sind oder genau das Gegenteil bewirken.

Dabei spielt das Orchester (einstudiert von Johannes Pell und Marc Sinan) sehr kultiviert aleatorische Musik, in diesem Fall nach den Vorgaben der Besucher. Sie haben nämlich die Abfolge der Kompositionen und improvisatorischen Freiräume ganz zu Anfang beim Einordnen ins Regal festgelegt. Genau so kamen die Noten auf die Pulte. Bestens harmonierte es mit den vier Gesangssolisten im Androidenoutfit Wendy Krikken (Sopran), Iris Marie Sojer (Mezzosopran), Adam Temple-Smith (Tenor) und Timothy Edlin (Bariton). Sie brillieren mit in allen Lagen sicheren und beweglichen Stimmen.

Szenenabfolge ist nicht
immer ganz schlüssig

Das Regieteam um den Komponisten Marc Sinan, Tobias Rausch (Texte) und Konrad Kästner (Regie und Videos) bedient sich bei der Umsetzung allen aktuellen tontechnischen und visuellen Techniken. Perfekt werden sie eingesetzt. Beim Anschauen und Zuhören bleiben folglich keine Wünsche offen.

Diese Produktion, Auftakt der neuen Programmreihe „NOperas!“, ist ein Work in Progress. Sie kommt nach den Wuppertaler Aufführungen zuerst nach Halle, schließlich nach Bremen, wo weiter an ihr gearbeitet werden soll. Dass diese Inszenierung noch nicht ganz fertig zu sein scheint, wird gerade auf der Handlungsebene deutlich. Denn ein wenig zu unprofessionell agieren noch hin und wieder die beiden Darstellerinnen. Auch wirkt die Szenenabfolge nicht immer ganz schlüssig.

Trotzdem ist der lang anhaltende Schlussapplaus des Premierenpublikums aufgrund der eindrucksvollen Präsentation der Begriffe Ordnung und Chaos, die zum Nachdenken anregen, berechtigt. Außerdem vernachlässigt damit die Wuppertaler Oper keineswegs das zeitgenössische Musiktheater, fördert es sogar, bleibt somit am Puls der Zeit.