Freies Netzwerk Kultur Wuppertaler Kulturkolumne: Die Kunst ist auch als Ausweg nicht mehr sicher

Wuppertal · Hinaus, hinaus ins Offene!

Max Christian Graeff.

Foto: C. Paravicini

Es ist immer dasselbe: Kaum trage ich das Schreibzeug erstmals unter den offenen Himmel, hat dieser nur noch Flausen im Kopf. Die Hummeln sind so rar wie nie, doch die fetteste stürzt sich, sobald sie mich reimen sieht, geradewegs in die dampfende Tasse. Ich reiße diese um, der Kaffee überschwemmt die Notizen und am Stuhl bricht durch die Verrenkung eine Schraube; im Fallen sehe ich noch, wie das Biest sich aus der Pfütze rettet, und sobald ich wieder auf den Beinen bin, brummelt sie kichernd davon. So kann ich nicht arbeiten! Statt Liedtext also zum Baumarkt, nur für die eine Schraube, doch an den Kassen gibt es Tumulte: Hochdruckreiniger müssen her und Turbogrills, breit und schwer wie SUVs, als wäre die Welt nur mit ihnen in Ordnung. Doch was den einen ein knuspriger Refrain ist, mag anderen eben das perfekte Steak sein.

Zeitgleich schlagen in Sumy, in Gaza, im Sudan und an zahllosen Orten Drohnen und Raketen ein, gefolgt von qualmenden Rechtfertigungen für das Morden von Menschen, die auch nur hinaus in den Frühling wollten. Die Gleichzeitigkeit der Ereignisse gehörte schon vor mehr als einem halben Jahrhundert zum eigenen Frühlingserwachen: die schwarz-weißen Berichte von Vietnam, die Bürgerkriege in afrikanischen Staaten, Bomben in Irland und Israel, das Lernen über den Holocaust, die Traumata der Eltern am Esstisch, das verzweifelt versuchende Erklären, warum was von sowas kommt, kaum aushaltbar zwischen Schinken, Versen und dem Blick in den blühenden Apfelbaum, hinaus ins Offene. Das noch kindliche Versprechen an sich selbst, nicht ins dunkle Innere fortzulaufen, sondern einen Weg durch den zerreißenden Traum vom schönen Leben zu finden, war begleitet vom sauren Regen, der stinkenden Wupper, der beißenden Luft vom Bayer-Werk. Das war damals noch reparabel und der Weg wurde zumindest zum Ausweg ins Offene, zu einem Leben als Dienstleister für die eine oder andere Form von Kunst und Kultur.

Wenn heute Jugendliche durch den hiesigen Frühling hummeln, suchen sie ihre eigenen, diversen Wege durchs Unvereinbare, und es spielt eigentlich keine Rolle, ob diese möglichst vielen von uns Alten gefallen oder nicht. Denn all die Nackensteaks, Refrains und Bomben, die mentalen Tunnelzugjacken und Besitzstandswahrungen sind doch Bestandteile dessen, was für sie kaum auszuhalten ist, vergleichbar mit dem und doch ganz anders als das, was für mich die Miniröcke, Kriegsberichte und Discoschlager waren. Neu sind jedoch die Maßgaben, welche wir Bestimmende weit jenseits der Lebensmitte tendenziell für individuelle Auswege aus den Schattenräumen setzen, kaum ausweichbar an Konventionen des Erfolges und Konsums gekoppelt und verhängnisvoll mit einer wieder etablierten „Normalität“ des Nationalen, Rassistischen und Ausgrenzenden verbunden.

Dem Ausbruch in die individuelle Sinnsuche sind neue Grenzen gesetzt. Mit jeder Kürzung möglicher Wege in eine lernend gelebte Kunst und Kultur und mit jeder Beschneidung von Initiativen politischer Bildung wird mehr jungen Menschen mit nachvollziehbarer »No future«-Empfindung die Hinwendung zu demokratiefeindlichen Positionen als Ausweg erscheinen: als fatale Alternative zu jenen Wegen, die hinaus ins Offene führen, hinein in die Chancen, die eigentlich ein jeder Frühling bringt.

Während Pina Bauschs „Frühlingsopfer“ derzeit nur in München läuft, wird hier im Tal der Tanzabend „Die sieben Todsünden / Fürchtet Euch nicht“ gespielt. Die Restkarten sind allzu gut versteckte Ostereier. Wir Boomer haben unsere Chancen gehabt; schenken Sie Ihre Tickets den suchenden Enkeln. Schicken Sie sie hinaus, unter den freien Himmel der Kunst!

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