Freies Netzwerk Kultur Wuppertaler Kulturkolumne: Kunst und Kultur für ein Morgen

Wuppertal · Wenn sich scheinbar Unvereinbares verbindet.

Torsten Krug.

Foto: Andreas Fischer

Letzten Sonntag hörte ich das Masnavi-Duo auf der Insel im Ada: Ein polnischer Jazz-Pianist begegnete einem iranischen Spieler der persischen Geige namens Kamanche. Eine polnische Frau war wegen des Pianisten gekommen und filmte das halbe Konzert mit dem Handy. Sie wolle Werbung machen für dieses tolle Projekt, erklärte sie. Aus der Verbindung von scheinbar Unvereinbarem erwuchs etwas Unerhörtes, Neues: Persische Melodien in ihrer subtilen und vielfältigen Mikrotonalität erklangen vor dem Hintergrund der „westlichen“ Jazz-Harmonien. Das Klavierspiel wurde von der spirituellen Energie der Kamanche aufgeladen und vertieft.

Im Publikum saßen zwei Frauen mit Kopftuch, die gemeinsam gekommen waren und sich während des Konzertes zur Musik wiegten und mit den Füßen wippten. Das war mir ein schönes Bild. Beim Klang der Kamanche schien ihnen das Herz aufzugehen. In der Pause fragte eine der Frauen, wo sie beten könne; wir brachten sie in einen Flur, wo sie Ruhe hatte. Nach dem Konzert bedankten sich beide bei den Musikern und bei uns.

Ein Wochenende zuvor erlebten wir rauschhafte, fast magisch anmutende Tage mit den Musikerinnen und Musikern des Festivals für freie Musik: „Brötz 2023!“. Verschiedene Generationen von Künstlerinnen und Künstlern – alle gehörten sie zur Avantgarde ihrer Szene – begegneten sich voller Respekt und Neugier: Musiker, die noch zusammen mit Peter Brötzmann dessen letztes Konzert in London gespielt hatten, und junge Musikerinnen, die den Begriff „Improvisierte Musik“ aktuell neu definieren. Sie alle schufen aus ihrer – teilweise erstmaligen – Begegnung Unerhörtes, das den ganzen Horizont unseres Daseins auszuloten schien. Das ist es wohl, was solche Konzerte zu wahren Ereignissen macht und das Publikum aus der ganzen Welt von den Stühlen riss.

Das Sinnbild steckt schon im Begriff „Konzert“, abgeleitet von „concertare“, was sowohl „miteinander klingen“ als auch „miteinander (wett)streiten“ bedeuten kann. In diesen Tagen brauchen wir die Kunst als Sinnbild der Begegnung von scheinbar Unvereinbarem, als Aushalten und Gelten lassen von Widersprüchen mehr denn je. Es ist unerträglich, wie die Nöte dieser Welt mehr und mehr Menschen in die Fänge von primitiven Erzählungen treiben. Abschottung, Nationalismus und Verdrängung von Identitäten führen zu immer neuer Brutalität. Wie können wir zu mehr Verständnis und Respekt füreinander gelangen? Das Hören, das Zu-Hören ist eine entscheidende Bedingung der Möglichkeit (natürlich auch mittels Gebärden). Kunst und Kultur können uns darin schulen, uns bilden im besten Sinne – auch verstören und wachrütteln. Am kommenden Freitag dürfen Uta Atzpodien und ich bei „Literatur auf der Insel“ einem der spannendsten Autoren seiner Generation begegnen. Thomas von Steinaecker (Jahrgang 1977) entwirft in seinem großen Roman „Die Privilegierten“ (erschienen in diesem Jahr) eine dystopische Welt, die ich – mit Gänsehaut – in jedem Augenblick als die meine erkenne. Er erzählt wie aus einer nahen Zukunft: „Near-future“ heißt das im Serienkontext, was den Sogeffekt eines Paralleluniversums erzeugt, in dem sich unsere nahe Vergangenheit anders entwickelt zu haben scheint.

Oft denke ich, wir alle formen diese einzige Welt, die uns bleibt, anhand einer großen gemeinsamen Erzählung. Es liegt an uns, von was oder wem wir diese Erzählung speisen lassen. Zuviel magisches Denken? – Geben wir Kunst und Kultur Raum, der gemeinsamen Vision unserer selbst mit voller Kraft eine neue Richtung zu geben. Es ist Zeit.

Anregungen erwünscht an: kolumne@fnwk.de