Freies Netzwerk Kultur Wuppertaler Kulturkolumne: Vom ambivalenten Umgang mit existenziellen Erschütterungen
Wuppertal · Nachdenken über das große Ganze.
Der große Saal des Barmer Bahnhofs ist voller Stimmen. Kinder huschen vorbei und genießen den ungewöhnlichen Ort zum Spielen, andere von ihnen, die ebenfalls mit ihren Eltern gekommen sind, sitzen konzentriert über Bildern, die sie unter der Aufsicht einer Bühnenbildnerin und eines Schauspielers malen. Auf einem von ihnen werde ich später die Wellenkämme eines Meeres erkennen, aus denen gespreizte Hände herausragen.
So schrieb ich vor mittlerweile neun Jahren. Mit den beiden Reihen „In unserer Mitte. Wir erzählen um unser Leben“ in der Spielzeit 2015/16 und „Flüchtige Welt. Labor für Neuland“ 2016/17 wollten wir zusammen mit den Wuppertaler Bühnen das Selbstverständliche tun: Einen Ort bieten, an dem Geflüchtete – damals aus Syrien – erzählen, und wir – Wuppertaler Autorinnen und Autoren – ihnen zuhören. Tief bewegt ging ich jedes Mal nach Hause, atmete eine freie Abendluft in einem privilegierten Land und sah aus anderen Augen auf mein Leben.
Man könnte meinen, die Welt der Kunst und Kultur sei prädestiniert dafür, die existenzielle Not und den Reichtum an Geschichten zu spiegeln und uns alle ins Handeln zu bringen. Doch leider versinken wir oft in Befindlichkeiten.
Als der Theaterregisseur Milo Rau 2022 am Schauspielhaus Zürich „Wilhelm Tell“ inszenierte, geriet er, so berichtet er, in „geradezu absurde, labyrinthische Meinungsverschiedenheiten (...) ausschließlich mit Menschen, mit denen ich in letztlich allem übereinstimme“: „Während sich die Welt draußen weiterdrehte und alle sieben Minuten eine Art für immer verschwand, (…) während unsere ganzen Debatten mit Steuermillionen finanziert wurden, die von den Schweizer Großkonzernen im Kongo per Kinderarbeit erwirtschaftet werden, waren unsere Minimaldissense so ohrenbetäubend laut, dass das Schweigen des globalen Todes nicht mehr zu hören war.“
Wird unser Blick tatsächlich enger, „unsere Binnen-Moral strenger, je größer und globaler die Bedrohung des Lebens ist, welches wir führen“? Die Welt, die von uns oft nur noch als kritisierbar, nicht aber mehr als veränderbar wahrgenommen wird, scheint uns mit ihren Untergangsvisionen zu erdrücken. In Raus radikalem Essay „Die Rückeroberung der Zukunft“, hervorgegangen aus seiner Züricher Poetikvorlesung und im letzten Jahr bei Rowohlt erschienen, sucht er nach neuen Formen des Denkens, Fühlens und vor allem: des kollektiven Handelns. Er appelliert für mehr Großzügigkeit, bei der Sprache, in Kooperationen, in Begegnungen.
Mir kommt dies zu Bewusstsein, wenn sich meine Wahrnehmungen der Kulturwelt mit der Pflege eines Angehörigen, mit den Erlebnissen meiner Frau aus der Sozialen Arbeitswelt, mit den Begegnungen im Rahmen unseres inklusiven Theaterprojektes in der Färberei übereinanderlegen. – Und in der Erinnerung an jene Abende voller Berichte, Bilder und Erzählungen der syrischen Geflüchteten. Manche von ihnen treffe ich gelegentlich heute noch, sie sprechen dann deutsch mit mir.
Neue Formen des
kollektiven Handelns gesucht
Es scheint paradox: Wir alle sehnen uns nach einer Auszeit von den existenziellen Erschütterungen, die uns medial begegnen und die auch uns bedrohen, wir scheinen kollektiv erschöpft – und stellen uns ihnen doch viel zu wenig. „Wie kann es sein, dass zwei Flugstunden von uns Menschen an der Front sterben, und hier regen sich die Leute über schlechtes Wetter auf?“, fragt Kriegsreporter Paul Ronzheimer in einem Interview im Zeit-Magazin. – Vielleicht ist diese Frage ja müßig. Und die nach dem Wetter gesund. Anregungen an: