Talk Wuppertalerin Else Lasker-Schüler fasziniert immer wieder

Wuppertal · In der Reihe „Studio Concordia“ wurde über die Aktualität der Dichterin gesprochen.

 Sprachen über den neuen Almanach (v.l.): Moderator Michael Schmidt-Russnak, Hajo Jahn, Julia Wolff, Prof. Bazon Brock und Prof. Gerold Theobalt.

Sprachen über den neuen Almanach (v.l.): Moderator Michael Schmidt-Russnak, Hajo Jahn, Julia Wolff, Prof. Bazon Brock und Prof. Gerold Theobalt.

Foto: Anna Schwartz/ANNA SCHWARTZ

Die Elberfelder Dichterin Else Lasker-Schüler starb 1945 im Exil in Jerusalem. Doch ihre Texte werden weiter gelesen, von Komponisten vertont, für die Bühne adaptiert. „Immer wieder fasziniert sie uns“, sagt Hajo Jahn von der Else-Lasker-Schüler-Gesellschaft. Um die Aktualität der Schriftstellerin ging es am Mittwoch in einer Talkshow der Reihe „Studio Concordia“. Anlass war die Veröffentlichung des Almanachs, in dem man jetzt die Beiträge zum Else Lasker-Schüler-Forum 2023 nachlesen kann.

Am Barmer Werth begrüßte Michael Schmidt-Russnak neben Mitherausgeber Jahn zwei prominente Autoren des Sammelbandes: Bazon Brock, emeritierter Ästhetik-Professor der Bergischen Universität, und Gerold Theobalt, Theaterschriftsteller und lange Jahre Dramaturg an den Wuppertaler Bühnen. Schauspielerin Julia Wolff machte die Runde komplett und las Auszüge aus dem 300-Seiten-Buch.

Von Wolff war auch Lasker-Schülers Gedicht „Weltflucht“ zu hören. Dessen Anfangszeile „Ich will in das Grenzenlose“ gab Titel und Themen des Almanachs vor. Die Vieldeutigkeit des Begriffs erlaubte es den Beteiligten, weit über Literatur und Kunst hinauszudenken. Im Gespräch wies Hajo Jahn auf die Ausführungen einer Meeresbiologin zur (scheinbar) unendlichen Tiefsee hin.

Das „Schwärmen“ der Dichterin für die Sterne und ihr frühes ökologisches Bewusstsein hatte ihn dazu gebracht, den Astronauten Reinhold Ewald zum Forum einzuladen. Der referierte über das Müllproblem im Weltall, das der Forschung im luftleeren Raum Grenzen setzt.

Bazon Brock ging näher auf die „Horizonte der Kunst“ ein, die sich Frauen um 1900 eröffneten. Weitgehend ohne ökonomische und politische Macht hätten Künstlerinnen „eine europäische Zivilisationskraft“ entwickelt. Lasker-Schülers Leben und Werk gebe ein herausragendes Beispiel ab. Statt die traditionelle Rolle der Muse anzunehmen, habe sie bedeutende Intellektuelle um sich versammelt: „Sie lässt sich von ihnen inspirieren.“

In diesem Kreis habe sie eine Aura entwickelt, „die so abstrahlt, dass sich andere faszinieren lassen“. Ihr Einfluss zeige sich etwa bei der Laufbahn von Ehemann Georg Lewin. Lasker-Schüler gab ihm den Namen „Herwarth Walden“ – für ihn eine Möglichkeit, sich neu zu erfinden. In der Folge baute Walden mit dem „Sturm“ eine der prägenden Zeitschriften der expressionistischen Bewegung auf.

Bei Recherchen auf erschütternde Schicksale gestoßen

Gerold Theobalt sprach über „die letzte Grenze“. Eine Umschreibung für den Selbstmord, den viele Opfer des Nazi-Regimes als letzten Ausweg wählten. Bei seinen Recherchen sei er auf erschütternde Schicksale gestoßen: Fälle, in denen nicht-jüdische Bekannte, Verfolgten Veronal besorgt hätten – im vollen Wissen, wozu das Schlafmittel dienen sollte. Vor den Selbstmorden sei das jüdische Eigentum oft noch „arisiert“ worden: „Das wirft natürlich einen Schatten auf unsere Gegenwart.“

Als Lebensretter stellte Theobalt Varian Fry vor. Unter dem Eindruck des Zweiten Weltkriegs wurde der junge Amerikaner vom Journalisten zum Fluchthelfer. Dank seiner Hilfe konnten viele Schriftsteller, die im französischen Exil längst nicht mehr sicher waren, über das Mittelmeer oder die Pyrenäen fliehen. So erlitten sie nicht das Schicksal eines Walter Benjamin, der sich auf der Flucht vor den Deutschen das Leben nahm.

Die Bezüge zur Gegenwart stellte Rezitatorin Wolff gleich mehrfach her. Sie trug die Rede von Özlem Genç vor, welche als Gastbeitrag im Almanach abgedruckt ist. Darin denkt die Enkeltochter von Mevlüde Genç über das Schweigen nach, das seit dem Brandanschlag von Solingen auf ihrer Familie lastet: „Schweigen muss wohl die Sprache der Schmerzerfüllten sein“.

In ihrem Text blickt Ingrid Bachér, ehemalige Präsidentin des PEN, mit Sorge auf den Krieg in der Ukraine. Vorleserin Wolff evozierte die biblische Geschichte vom Brudermord. Als „legitime Nachfahren“ von Kain und Abel müssten sich alle die Frage stellen, wie sich ein Ende des Grauens und des Schlachtens finden lasse.