Interview mit Jessika Westen Wuppertalerin veröffentlicht Buch über Loveparade-Unglück: „Ich will verstehen, was da passiert ist“

WUPPERTAL · Bei dem Loveparade-Unglück 2010 starben in Duisburg 21 Menschen. Die Wuppertalerin Jessika Westen berichtete damals für den WDR. Jetzt hat sie ein Buch über das Unglück veröffentlicht.

Die Treppe neben der Rampe, wo 21 Menschen starben, ist seit Juli 2013 offizielle Gedenkstätte für die Toten.

Foto: dpa/Marcel Kusch

Hunderte Zeugen, Zehntausende Aktenzeichen: Anfang Mai stellt das Landgericht Duisburg einen der größten Strafprozesse in der Geschichte der Bundesrepublik wegen vermutlich geringer Schuld der Angeklagten ein. Nach 184 Sitzungstagen endet das Verfahren um das Loveparade-Unglück 2010 mit 21 Toten und mehr als 650 Verletzten ohne ein Urteil. Eine Vielzahl von Umständen habe zu dem tödlichen Gedränge auf der Rampe, die zur Veranstaltung führte, beigetragen, heißt es in der Urteilsbegründung.

Dass niemand strafrechtlich zur Verantwortung gezogen wird, lässt vor allem Angehörige und Freunde der Opfer erschüttert zurück. Vielen fehle nun die Chance, mit dem Geschehen abzuschließen, sagt die Fernsehjournalistin Jessika Westen. Die Reporterin berichtete damals live für den WDR. Seitdem hat sie viele Gespräche mit Betroffenen geführt. Auch den Prozess hat die Wuppertalerin journalistisch begleitet. Jetzt hat die 40-Jährige ein Buch über das Unglück geschrieben. In Zusammenarbeit mit Angehörigen, Betroffenen und Ersthelfern ist eine fiktive Rekonstruktion des Tages aus drei Perspektiven entstanden.

Wir sprachen mit Jessika Westen über ihren Roman „Dance or die – die Loveparade-Katastrophe“.

Frau Westen, die juristische Aufarbeitung der Duisburger Tragödie ist Geschichte. Kommt Ihr Buch da gerade zur richtigen Zeit?

Jessika Westen: Vielleicht, aber das war eigentlich gar nicht so geplant. Das war mehr die letzte Chance, würde ich fast sagen. Zum zehnten Jahrestag bietet sich das irgendwie noch mal an.

Recherchiert haben Sie schon sehr lange.

Fernsehjournalistin und Autorin Jessika Westen

Foto: Westen

Westen: Angefangen habe ich schon relativ kurz nach der Katastrophe. Da habe ich die ersten Kapitel runtergeschrieben. Sie dann aber wieder schnell in die Schublade gepackt. Ich war mir gar nicht sicher, ob ich daraus etwas machen wollte.

Doch der 24. Juli 2010 hat Sie nicht losgelassen.

Westen: Der Tag ist immer noch sehr präsent. Ich habe schon relativ früh das Gefühl gehabt, ich will begreifen, was da eigentlich passiert ist. Das war der erste Impuls. Da habe ich gedacht, ich muss Interviews führen, ich muss mit Augenzeugen sprechen, ich muss irgendwie mehr verstehen, wie es zu diesem Unglück kommen konnte.

Wie sind Sie vorgegangen?

Westen: Wir haben damals für den WDR sowieso viel gedreht. Dadurch kam ich natürlich schnell ins Gespräch mit Betroffenen und Angehörigen. Später habe ich dann auch einen sehr guten Kontakt zu einem Sanitäter bekommen, auch zu dem Leitenden Notarzt, der als einer der ersten an der Unglücksstelle war. Mit allen habe ich lange Interviews geführt und diese auch aufgezeichnet. Parallel habe ich vieles aus meiner eigenen Perspektive heruntergeschrieben. Ich dachte, ‚Du darfst das nicht vergessen, Du musst das festhalten’.

Der Sanitäter nimmt in Ihrem Buch eine von drei Perspektiven ein.

Westen: Er hat von Anfang daran geglaubt, dass ich das Buch schreibe, obwohl ich mir selbst noch nicht hundertprozentig sicher war. 2014 habe ich mich dann aber an den Schreibtisch gesetzt.

Die Faszination der Loveparade haben Sie sofort verstanden.

Westen: Ich habe einen sehr persönlichen Bezug zur Loveparade, weil ich vorher privat und auch beruflich mehrfach da war, damals noch in Berlin. Und hatte deswegen auch diese ganze emotionale Fallhöhe, diese unglaubliche Freude auf diese Veranstaltung und dann eben diesen abrupten Wechsel in die Tragödie – das hat mich unglaublich berührt und bewegt. Weil ich immer auch wusste, dass es mich hätte treffen können.

Warum haben Sie die Roman-Form für Ihr Buch gewählt?

Westen: Das war mir relativ früh klar, weil ich das Gefühl hatte, in einer Dokumentation kann ich nicht so gut eine richtige Geschichte erzählen. Ich wollte die emotionale Tiefe irgendwie anders rüberbringen. Natürlich gehe ich auch mit, wenn ich ein journalistisches Produkt lese. Aber es ist etwas anderes, wenn ich diese Personen in einer Romanform kennenlerne. Ich hatte von Anfang an das Gefühl, dass das mehr mein Weg ist.

Katty ist Ihre Ich-Erzählerin.

Westen: Sie ist die Hauptfigur. Sie steht stellvertretend für viele, die einfach nur zum Feiern nach Duisburg gekommen waren.

Die dritte Perspektive nimmt Emma ein, eine Fernsehjournalistin.

Westen: Ja, Emma hat eine ganze Menge mit mir gemeinsam. Sagen wir es mal so.

Wie lief der Tag für Sie ab, wie nah waren Sie am Geschehen?

Westen: Ich hatte mehrere Live-Schalten. Irgendwann merkten wir, da stimmt etwas nicht. Es gab kaum Handy-Empfang. Dann war der Bahnhof gesperrt, weil Leute auf den Gleisen waren. Und dann kam irgendwann ein Anruf von einem Kollegen, der etwas von Toten gehört, aber das noch nicht bestätigt hatte. Schließlich kam ich zum Polizeisprecher durch. Der sagte mir, dass zehn Menschen im Gedränge gestorben seien und viele gerade noch reanimiert würden.

Wie sehr standen sie selbst unter Schock?

Westen: In so einer Situation funktioniert man ja eigentlich nur noch. Ich habe gar nicht viel nachdenken können. Das kam erst Schritt für Schritt. Schreiben ist sicher in irgendeiner Form ein Verarbeitungsprozess. Das hat mich dann auch wieder sehr angefasst. Es war nicht einfach, sich damit auseinanderzusetzen.

Genau wie für viele Angehörige, die das Warum nicht begreifen können.

Westen: Für die war das alles ja noch sehr viel schlimmer. Sie haben einen geliebten Menschen verloren. Das mag ich mir gar nicht vorstellen, was das bedeutet. Die Familien leiden bis heute.

Hätte ein Urteil trösten können?

Westen: Den einen oder anderen vielleicht ein wenig.

Die Angeklagten treffe allenfalls eine geringe Schuld, so das Gericht. Aber schon die Aufarbeitung der Katastrophe verlief von Anfang an unbefriedigend.  Gutachter sehen schwere Fehler bei der Genehmigung und Planung, aber auch bei der Lenkung der Besucherströme.  Die Verantwortung übernommen hat niemand. Wie wichtig war es Ihnen, diese Kritik an der Organisation der Loveparade, dieses kollektive Versagen, mit der Geschichte zu verweben?

Westen: Schon sehr wichtig. Es wird an vielen Stellen im Buch deutlich, was versäumt wurde und wo es Probleme gab, das schwingt in der Geschichte überall mit. Der Druck, die Veranstaltung unbedingt umsetzen zu wollen, muss größer gewesen sein als die Bedenken. Wenn man sich die Ermittlungsakten ansieht, kann man teilweise nur mit dem Kopf schütteln, wie viele Fehler bei der Planung und am Tag selbst gemacht wurden oder wo im Vorfeld Leute überall weggesehen haben müssen – nach dem Motto „wird schon gutgehen“. Da fragt man sich unweigerlich, warum nicht irgendjemand rechtzeitig die Reißleine gezogen hat.

Hat der Prozess gezeigt, dass es keine Gerechtigkeit gibt?

Westen: Meiner Ansicht nach hat er auf jeden Fall gezeigt, dass unser Rechtssystem bei solchen Mammutverfahren überfordert ist. Die Ermittlungen haben viel zu lange gedauert. Da müsste es eigentlich große Spezialeinheiten bei der Staatsanwaltschaft geben, die sich mit nichts anderem befassen. Auch die Verjährungsfrist finde ich in dem Zusammenhang problematisch, wenn ich auch einsehe, dass man ein Verfahren nicht ewig ziehen kann.

Gibt es eine moralische Schuld jener, die eine viel zu große Veranstaltung auf einem viel zu kleinen Areal geplant haben?

Westen: Für mich ja, aber ich möchte auch nicht in deren Haut stecken. Die Frage ist: Wenn alle die Veranstaltung wollen und die klare Vorgabe von allen Seiten ist „das muss funktionieren“, wer traut sich dann noch, einen geraden Rücken zu machen und nein zu sagen? Moralische Schuld haben demnach auch andere, auf höheren Ebenen. Im Jahr der „Kulturhaupstadt Ruhr 2010“ war die Erwartungshaltung möglicherweise besonders hoch.

Sie haben viele Gespräche geführt. Was geben Sie den Angehörigen und Betroffenen mit auf den weiteren Weg?

Westen: Sie haben mir viel mit auf den Weg gegeben. Sie haben mich Demut und Dankbarkeit gelehrt. Dankbar zu sein, für alles, was man hat und für jeden Tag, an dem alles in Ordnung ist und es den Lieben um einen herum gutgeht. Es kann so schnell vorbei sein. Ich danke ihnen für das Vertrauen, das sie mir die vergangenen Jahre geschenkt haben und hoffe, dass ich ihnen mit dem Buch ein bisschen etwas zurückgeben kann.