Meinung WZ-Kommentar zu zunehmenden Betteln in Wuppertal: Die Stadt der zerstörten Seelen

Wuppertal · Wie reagiert man, wenn ein Obdachloser einen anspricht? Darf ich bettelnde Menschen ignorieren?

martin.gehr@wz.de

Foto: ANNA SCHWARTZ

Manchmal, wenn man durch Wuppertal geht, wirkt dieser Ort wie eine Stadt der zerstörten Seelen. Besonders in den Innenstädten von Elberfeld und Barmen. Vor einigen Tagen hinkte ein Mann über den Laurentiusplatz. Er stützte sich auf einen Rollator, seine Haare waren zerzaust, die Kleidung verschmutzt. Als er mich sah, hielt er inne: „Entschuldigen Sie, haben Sie vielleicht zwanzig Cent für mich?“ Als ich wortlos an ihm vorbeiging, rief er mir hinterher: „Ich wünsche Ihnen trotzdem einen schönen Tag! Wenigstens etwas Anstand wäre gut!“ Die Schweizer Politikerin Ruth Dreifuss sagte einmal: „Armut beschämt nicht die betroffenen Menschen, Armut beschämt die Gesellschaft.“ Hatte ich unsozial gehandelt? Darf ich bettelnde Menschen ignorieren? Oder kommt es auf deren Verhalten an? Auch unter ihnen gibt es Charaktere. Manche sitzen nur da. Ihre einzige Forderung ist der Pappbecher. Und ihre Anwesenheit. Andere bedienen das Klischee des Clochards. Manche scheinen gezwungen – durch organisierte Kriminalität. Immer häufiger – und dieses Thema tauchte beim Runden Tisch der CDU auf – sei Aggressivität zu spüren. Man kann als einen Grund – wie der Ordnungsdezernent – Drogenkonsum benennen. Man kann aber auch sagen: Not macht nicht nur erfinderisch, Not macht auch verzweifelt und erfordert immer Hilfe. Und die erschöpft sich nicht in zwanzig Cent.