Uraufführung von Anne Teresa De Keersmaekers Live-Performance „Y“ Zeitgenössischer Tanz trifft bildende Kunst
Essen · Die Darbietung im Museum Folkwang in Essen verwundert, erstaunt, berührt und macht nachdenklich.
„To be or not to be“ – Hamlets Geist schwebt im Raum, wenn sich die Tänzerin Synne Elve Enoksen vor Édouard Manets dunklem Gemälde „Portrait de Faure dans le rôle d‘Hamlet“ von 1877 (Der Sänger Jean Baptiste Faure als Hamlet) bewegt. Sie nimmt das Motiv von Shakespeares melancholischem Zweifler mit Degen auf und übt sich in kleinen Fechtschritten. Das Abgründige verstärkt Barnett Newmans hochformatige schwarze Farbfläche „Prometheus Bound“ (1952). Plötzlich bewegt Enoksen sich provokativ auf das umherstehende Publikum zu und stichelt mit ihrer imaginären Waffe. Irritation. Nur eine Frau geht auf das Spiel ein und stichelt zurück. Ein Anflug von Schmunzeln im Gesicht der Tänzerin.
Die Live-Performance „Y“ der flämischen Star-Choreografin Anne Teresa De Keersmaeker im Folkwang Museum Essen verwundert, erstaunt, berührt und macht nachdenklich. Mitunter erschreckt sie auch – durch Schreie, Rufe und Motive. Denn viele der 51 bedeutenden Kunstwerke, die De Keersmaeker aus der Sammlung epocheübergreifend zusammengestellt hat, erzählen von Gewalt. Der Titel „Y“, steht für die Abkürzung von „Why“ (warum).
Lange wurde spekuliert, ob diese Welturaufführung stattfinden würde. Im Frühsommer beherrschten schwere Vorwürfe wegen Machtmissbrauchs gegen De Keersmaeker die Schlagzeilen. Ihre Company „Rosas“ soll sie alles andere als pfleglich behandelt haben. Rund zwei Dutzend Personen aus ihrem Umfeld werfen der stilbildenden und hochkreativen Ikone Psychoterror in Form von Mobbing und Schikane vor. Und sie soll die Gesundheit ihrer Tänzer und Tänzerinnen gefährdet haben: Während der Pandemie, so die Anschuldigungen, habe De Keersmaeker sämtliche Schutzmaßnahmen ignoriert. Strafanzeigen gab es aber keine. Die belgische Zeitung De Standaard berichtete Ende Juni erstmals von einem externen Gutachten, das dem Weltstar einen autoritären Führungsstil und ein toxisches Arbeitsklima attestiert. Die Flämin sei ausschließlich an ihrer eigenen Kunst interessiert ohne Rücksicht auf das Wohlergehen ihrer Company. Mittlerweile wurden in ihrem Team Strukturen verändert, psychologische Berater eingestellt, Vertrauenspersonen benannt.
Diese Krise hat, Mutmaßungen zum Trotz, weder die Veranstalter in Wien noch in Antwerpen zu Absagen von Gastspielen veranlasst. Das Auftragswerk „Y“ der Ruhrtriennale in Koproduktion mit dem Museum Folkwang in Essen wird das Publikum scharenweise in Erstaunen versetzen, irritieren, nachdenklich machen. Und vielleicht auch begeistern. Denn viele Teile dieser Produktion, die sich auf etwa ein Dutzend Räume über 840 Quadratmeter ausdehnt, nehmen einen gefangen.
So Nina Godderis’ Spiegelung von Käthe Kollwitz’ Radierung „Frau mit totem Kind“. Die Tänzerin in pinkfarbener Trainingsjacke und Jeans fühlt sich in die Stimmung des Bildes hinein. Sie hockt im Schneidersitz davor, den Oberkörper vornüber gebeugt in leichter Verdrehung. Exakt wie auf dem Bild, nur ohne Kind. De Keersmaeker steht am Eröffnungstag wenige Schritte von ihr entfernt mit kritischem Blick. Die Tänzerin beginnt zu schaukeln, immer heftiger, als wolle sie sich aus diesem Szenario befreien. Sie überschlägt sich, kreist in raumgreifenden Bewegungen über den Boden zu einem anderen Bild. Nina Godderis ist eine Verwandlungskünstlerin. Sie stellt sich neben ein Gemälde mit pausbäckigem Kind, bläst die Backen auf und kneift die Augen zusammen. Schon witzig.
Erschreckend dann das Familienfoto von Jacob Holdt aus der Serie „American Pictures“: Auf den ersten Blick sieht man eine fröhliche Familie mit zwei Kindern auf dem Sofa, alle haben etwas in der Hand. Stöcke? Musikinstrumente? Die Tänzerin nimmt die Perspektive des Familienvaters ein und beginnt, sein Lächeln immer breiter ins Absurde und schließlich Dämonische zu verziehen. Geht man näher an das Bild heran, erkennt man, dass alle Personen Waffen in den Händen halten: Gewehre, Pistolen, ein Kind hält sogar ein Repetiergewehr.
Immer wieder kontrastiert die Performance Schönheit mit Grauen. Es gibt Auguste Renoirs wonniges „Lise mit dem Sonnenschirm“ in einer Koje mit Käthe Kollwitz‘ erschütternder Radierung „Vergewaltigt“. Robson Ledesma bewegt sich durch diesen Raum mit nacktem Oberkörper. Er verschwindet um die Ecke, stellt sich vor ein anderes Werk und dreht sich jäh um: „What?“ ruft er mit durchdringender Stimme.
Diese Performance ist ein einziges politisches Statement der großen Tanzkünstlerin. Immer deutlicher wird sie in ihren Botschaften. Von der reinen Ästhetin und Theoretikerin hat sie sich in ihren Arbeiten immer weiter entfernt. Zuletzt setzte sie sich in „Exit above“ mit der Klimakatastrophe auseinander. Nun die Kriege, die weltweite Gewalt und Verrohung. „Y“ vermittelt eine Fülle an optischen und akustischen Eindrücken. Wer diese Live-Performance in seiner Gänze erfassen möchte, sollte zweimal kommen.