Die Sehnsucht nach dem Tod
Jeder 100. Deutsche setzt seinem Leben freiwillig ein Ende. Studenten in Berlin wollen das Thema aus der Tabuzone holen.
Berlin. Es ist ein düsteres Thema so kurz vor dem Herbstbeginn. "Selbsttötung" druckt Künstlerin Anja Sommer in schwarzen Lettern auf eine alte Tür. Sie bereitet eine Ausstellung vor, die das Phänomen Suizid als wissenschaftlich-künstlerische Auseinandersetzung in die Öffentlichkeit tragen will.
Alte Haustüren mitten in Berlin symbolisieren den freiwilligen Ausstieg aus dem Leben. Auf dem Rasen des Charité-Geländes nahe dem Medizinhistorischen Museum stehen sie für mehr als 9.000 Menschen, die sich in Deutschland jedes Jahr umbringen.
Im Institut für Europäische Ethnologie der Humboldt-Universität (HU) sitzt Dozent Falk Blask inmitten von Bücherregalen. Eines ist gefüllt mit Literatur zum Thema Selbsttötung. Doch kulturhistorische Bücher helfen wenig, wenn sich der beste Freund umbringt.
Drei Jahre sei das nun her, sagt Blask. "Ich war damit völlig überfordert." Selbstvorwürfe quälten ihn, die Suche nach Vorboten begann. "Doch da war nichts", sagt Blask. Sie hatten in all den Jahren ihrer Männerfreundschaft über vieles gesprochen, aber nie über den Tod.
Beim Statistischen Bundesamt ist der Tod wohlsortiert. Es gibt Tabellen über Suizid-Zahlen. Jeder 100. Mensch scheide in Deutschland gewollt aus dem Leben, resümiert Volkswirt Stefan Rübenach. "Das Thema wurde lange tabuisiert, obwohl es einen bedeutenden Teil der Todesursachenstatistik ausmacht."
Beim Berliner Krisendienst wissen die Mitarbeiter, dass der Entschluss zum Suizid unabhängig ist von Alter, Bildung oder Beruf. Trennungsschmerz, familiäre Konflikte, Einsamkeit oder Sucht können Auslöser sein. Oft gehe es aber gar nicht um den Wunsch zu sterben, sagen Experten von der Deutschen Gesellschaft für Suizidprävention. Vorherrschend sei das Gefühl, so wie bisher nicht weiterleben zu können.
Den Ethnologen Falk Blask ließ das Thema Suizid nicht los. Schließlich bot er ein Uni-Seminar an: "Die Sehnsucht nach dem Tod". Geplant war weder eine Betroffenheits-Veranstaltung noch Anleitung zum Suizid. "Als ich zur ersten Stunde kam, saßen da 90 Leute", sagt Blask.
Die Ausstellung, die nun als Kooperation der HU-Ethnologen und der Universität der Künste entstand, ist ein Ergebnis des Seminars. Heute weiß Blask, dass viele Studenten ähnliche Erfahrungen haben wie er: Freunde, Eltern oder Geschwister nahmen sich das Leben.
Doch an der Uni ging es nicht um das Warum. Es ging um die Frage, wie sich Medien und Gesellschaft mit dem Thema auseinandersetzen. Das Ergebnis fasst eine junge Ethnologin zusammen: "Einen normalen Umgang mit dem Thema Suizid gibt es nicht. Das prangern wir an."
Die Ausstellung "Sterben wollen - Denkraum Suizid" regt zum Nachdenken ein. Auf einer Tür gibt es den Abschiedsbrief eines 19-Jährigen aus dem Jahr 1930 zu lesen. "Ich sehe ein, dass ich ein schlechter Mensch war", schreibt er.
"Ich habe nicht die Kraft mich zu bessern. Am meisten hasse ich mich selbst." Der Mann brachte sich um, weil er als Homosexueller diskriminiert wurde. Ein Beispiel für den Leidensdruck, den jedes Gefühl von Ausgegrenztsein bis heute erzeugen kann.