Die Wiederkehr der Blutrache
Ehre, Sühne, Hass: Die Duisburger Morde widersprechen den Prinzipien der organisierten Kriminalität.
Düsseldorf. 70 Schüsse feuern die Täter ab. "Militärische Präzision", sagen später die Ermittler. Doch die kaltblütige Dramaturgie des Massakers von Duisburg hat eine heißblütige Ursache, und die heißt "Vendetta" - Blutrache.
So sehr die beiden verfeindeten Clans aus dem italienischen Bergdorf San Luca auch in Drogenhandel, Waffenschieberei und Wirtschaftskriminalität verwickelt sind: Bei der Hinrichtung der sechs Männer ging es nicht um Revierkämpfe zwischen Mafiagruppen, sondern um uralte Muster der Lynchjustiz.
Am Anfang war ein Streit um Faschingsböller. Das war 1991 in San Luca. Seitdem ein Jahr später die ersten Morde geschahen, herrscht Krieg zwischen den Clans. Ein Krieg mit immer neuen Gewalt-Exzessen: erst der Weihnachtsmord an der 33-jährigen Ehefrau eines Mafiabosses, jetzt das Massaker im Ruhrgebiet.
Aber das Verbrechen von Duisburg sagt wenig über italienische Verbrechersyndikate aus, auch wenn die Dramaturgie an Mafia-Mythen erinnert. Gewalttaten sind in diesem Milieu selten, international operierende Mafiabanden handeln als kaufmännisch orientierte Unternehmen: skrupellos, aber leise und effizient. "Die organisierte Kriminalität lebt von ihrer Lautlosigkeit", sagt der Direktor des nordrhein-westfälischen Landeskriminalamtes, Wolfgang Gatzke.
Gestern meldete sich Bischof Giancarlo Bregantini aus dem kalabrischen Locri zu Wort, der die dunkle Wirklichkeit der Bergdörfer besser kennt als die meisten Fahnder: In der Fehde zwischen den Familien spielten auch Machtinteressen eine Rolle, "aber in erster Linie geht es um Gefühle". Und: "Die Frauen tragen die Vergebung oder die Rache in ihren Herzen."
Die Rolle der Frauen ist in der archaischen Tradition der Blutrache klar definiert. Träger der Ehre kann zwar nur ein Mann sein, aber Frauen bleiben unantastbar. Dieses ungeschriebene Gesetz gilt in den kalabrischen Bergdörfern genauso so wie im katholischen Albanien und im muslimischen Osten der Türkei.
Blutrache: Diese Form der Selbstjustiz galt in Europa noch vor 20 Jahren als ausgerottet, doch vor allem auf dem Balkan brachen nach dem Zerfall Jugoslawiens Jahrzehnte alte Fehden wieder auf. Heute werden schon Kinder von ihren Eltern darauf programmiert, später durch Morde die Familienehre wiederherzustellen. Bürgerrechtsorganisationen schätzen, dass nach dem Kollaps des Tito-Regimes 10 000 Albaner aus Blutrache ermordet wurden und 60 000 Menschen aus Angst ihre Häuser nicht mehr verlassen.
Blutrache Diese Form der Selbstjustiz hat sich vor allem in entlegenen Regionen Italiens, Siziliens, Albaniens, Kretas, Korsikas und der Osttürkei bis heute gehalten. Bis zur Entwicklung moderner Staatlichkeit war Blutrache eine legitime Form der Bestrafung. Ohne einen übergeordneten Justiz-Apparat hatten Sippen das Recht, nach dem Motto "Auge um Auge, Zahn um Zahn" Verbrechen zu vergelten.
Wachsfäuste Auch im Duisburger Fall gibt es klare Zeichen, die auf Blutrache (Vendetta) hindeuten: Am Tatort vor dem Restaurant "Da Bruno" stellten Unbekannte zwischen die Blumen und Kerzen zwei aus schwarzem Wachs gegossene, geballte Fäuste ab, darauf eine Zigarette. Experten werten dies als Kampfansage an die Täter und deren Hintermänner: "Wir lassen und nicht unterkriegen, wir sind stark und werden zurückschlagen." Die Zigarette dürfte ein letzter Gruß an den getöteten Sebastiano S. (38) sein - er war starker Raucher.
Feiertags-Morde Weiteres Indiz für eine erbitterte Vendetta sind die Tage, an denen im langjährigen Zwist zwischen den beiden verfeindeten Familien gemordet wurde: Am 1. Weihnachtsfeiertag 2006 wurde Maria Strangio erschossen. Ihre Beerdigung war am Silvestertag - und auch an diesem Tag sollte ein Mord stattfinden, doch der Täter konnte überwältigt werden. Das Massaker von Duisburg fand am frühen 15. August statt, dem "Ferragosto", dem Himmelfahrtstag der Nationalpatronin Maria. Nächster Feiertag ist der 2. September, der Tag der Wallfahrt zur Maria di Polsi . . .