San Luca - "Dorf der lebenden Toten"
Bereits seit den 70er Jahren taucht immer wieder der Name eines Ortes auf, wenn es um Verbrechen der 'Ndrangheta geht: San Luca. Für viele Bürger des Dorfes ist die seit 16 Jahren dauernde Blutfehde zwischen den Clans Strangio-Nirta und Pelle-Romeo ein Alptraum.
Rom. Bei dem Wort "Mafia" kommen den meisten Menschen gleich die berühmt-berüchtigte Cosa Nostra und das Örtchen Corleone auf Sizilien in den Sinn. Dass eine andere Organisation die Sizilianer was Macht und Finanzen betrifft mittlerweile übertrumpft hat, das wissen nur die wenigsten. Die kalabrische 'Ndrangheta galt lange als die "kleine Schwester" von Cosa Nostra und kampanischer Camorra - hat sich aber seit ihrer Entstehung um 1861 langsam an die Spitze der organisierten Kriminalität in Italien emporgekämpft. "Experten sind sich heute einig, dass die 'Ndrangheta die schrecklichste aller Mafia-Organisationen ist", schrieb die Zeitung "La Repubblica" am Freitag. Wie gefährlich und blutrünstig die Clans aus Kalabrien sind, zeigt nicht zuletzt der Sechsfachmord in Duisburg. "Der Ort des Verbrechens beweist, dass der Hinterhalt mit militärischer Präzision vorbereitet wurde", meinte ein römischer Journalist. Mehr als 70 Schüsse sollen auf die Opfer abgefeuert worden sein, alle sechs Männer wurden dabei auch in den Kopf getroffen. Die 'Ndrangheta verzeichnet mittlerweile durch Drogenhandel, Waffenschmuggel und Erpressung einen Jahresumsatz von 35 Milliarden Euro, rechnen Experten vor. Dabei gibt es auch eine enge Zusammenarbeit mit den kolumbianischen Drogenkartellen - allein mit diesen Geschäften verdient die Vereinigung Schätzungen zufolge jährlich 17 Milliarden Euro. Der etwas seltsam anmutende Name der Organisation leitet sich dabei wahrscheinlich vom griechischen "andragathia" (Männlichkeit) oder von "andragathos" (tapferer Mann) ab. Antimafia-Staatsanwalt Alberto Cisterna hat die mächtige 'Ndrangheta jetzt sogar mit der Terror-Organisation El Kaida verglichen: "Wie El Kaida in Afghanistan, so hat sich auch die 'Ndrangheta in Kalabrien in einem relativ primitiven wirtschaftlichen Umfeld entwickelt und mit der Zeit den Trend der Globalisierung ausnutzen können", sagt er. "Beide Organisationen sind gleichzeitig extrem traditionell und innovativ, mittelalterlich und modern." Und bereits seit den 70er Jahren taucht immer wieder der Name eines Ortes auf, wenn es um Verbrechen der 'Ndrangheta geht: San Luca. Immerhin stammten auch fünf der sechs Opfer von Duisburg aus der 4000-Seelen-Gemeinde. Schon 1973 spielte das Dorf in Zusammenhang mit der Entführung von Paul Getty III., dem Enkel des Öl-Milliardärs Paul Getty, eine wichtige Rolle. Die Lösegelderpresser der 'Ndrangheta trennten dem Gekidnappten damals mit großer Grausamkeit die Hälfte seines rechten Ohrs ab. Nach zähen Verhandlungen kam der junge Paul fünf Monate später gegen ein Lösegeld von zwei Millionen Dollar frei. In der Folgezeit der Entführung soll San Luca plötzlich sehr reich gewesen sein, betonte Mafia-Experte Jürgen Roth in einem Interview mit dem Rundfunk Berlin-Brandenburg. Für viele Bürger des Dorfes ist die seit 16 Jahren dauernde Blutfehde zwischen den Clans Strangio-Nirta und Pelle-Romeo hingegen ein Alptraum - vor allem seit diese im vergangenen Dezember wieder neu aufgeflammt war. "San Luca ist ein Dorf von Lebenden, die wie Tote leben", brachte es der Pfarrer der Gemeinde, Don Pino Strangio, auf den Punkt. Allein in den vergangenen acht Monaten forderte die Fehde acht Tote - und macht dabei auch vor Frauen und Kindern nicht Halt. "Vier Nachnamen, zwei Clans und mit jedem Schuss wird San Luca mehr und mehr zu einem Dorf von Zombies", meinte "La Repubblica".