Frankreich: Die Selbstmörder in Gastons Hof

Das Ehepaar Praud wohnt an einer Brücke, von der sich oft Menschen stürzen. Sechs Selbstmörder haben sich in den vergangenen fünf Jahren von der 54 Meter hohen Eisenbahnbrücke auf ihr Grundstück gestürzt.

Paris. Der morgendliche Kontrollblick gehört zu Gastons ersten Aufgaben - noch vor dem Hühnerfüttern. Ist die Luft rein, darf auch seine Ehefrau vor die Türe. Das Rentner-Ehepaar in der westfranzösischen Vendee durchlebt einen Alptraum.

Sechs Selbstmörder haben sich in den vergangenen fünf Jahren von der 54 Meter hohen Eisenbahnbrücke auf ihr Grundstück gestürzt. "Wir sind völlig am Boden, schlafen nicht mehr", sagt Maryvonne (59), Gastons Ehefrau. Den Enkeln hat sie längst verboten, bei Opa und Oma vorbeizuschauen - "man weiß ja nie, was passiert."

Seit Beginn der traurigen Serie im Mai 2001 haben die Prauds, die sich vor fast 30 Jahren in das idyllisch gelegene Gehöft verliebten und herzogen, bei den Behörden Alarm geschlagen, ohne jedoch groß Gehör zu finden. Auch eine Klage verlief im Sand.

Nach jedem Selbstmord - der letzte war im Oktober - folgt die gleiche Prozedur: Feuerwehrleute, Polizisten, Mediziner und Bestatter drängeln sich auf dem Grundstück. Wenn alles vorbei ist, nimmt Gaston Besen und Wasserschlauch und macht sauber. Maryvonne sitzt dann immer in der Küche und zittert.

Als weit schlimmer noch empfinden die Rentner freilich den Besuch von Hinterbliebenen, die oft jedes grausige Detail erfahren wollen und die Eheleute ausquetschen, "als seien wir schuld". Für Gaston und Maryvonne steht fest, dass die Selbstmörder nicht zufällig die längst stillgelegte Eisenbahnbrücke mit ihren sieben mächtigen Bögen für den Sprung in den Tod gewählt haben.

Seit 1998 nutzt ein Bungee-Unternehmen die Brücke als Sprungplattform und lockt damit Touristen in die abseits liegende Region. Die Bürgermeisterin des nächstliegenden Ortes hält wenig davon, die Brücke zu sperren, wie Praud es fordert. "Wenn wir den Zugang sperren, haben wir alle Spaziergänger gegen uns", sagt Marie-Christine Herbouiller, die der Mini-Gemeinde La Chataigneraie vorsteht. Auch der Vize-Chef des Unternehmens sieht keinen direkten Zusammenhang. "Es gibt Brücken ohne Bungee-Sprünge, aber mit Selbstmorden", sagt Bertrand Bethune.

Nach dem Medienwirbel, den die Prauds ausgelöst haben, wollen die Behörden jetzt doch reagieren. Der Unterpräfekt drohte den Bürgermeistern der umliegenden Gemeinden schriftlich an, über ihre Köpfe hinweg eine Entscheidung zu treffen, um die "öffentliche Ordnung" zu sichern. Auch Bethune ist zu Konzessionen bereit und will Netze spannen.

Noch im März ist ein Treffen mit allen Beteiligten verabredet. "Die Brücke hat in Bungee-Kreisen längst den Status eines lokalen Eiffelturms", schwärmt Be-thune. Gaston und Maryvonne freilich blicken mit gänzlich anderen Gefühlen auf die Brücke über ihren Köpfen.