„Ein neues Abenteuer“ - Berlin und seine Expats
Berlin (dpa) - Die Großmutter hat den Holocaust überlebt. Sie konnte es nicht verstehen, dass die Enkelin ausgerechnet nach Berlin gezogen ist. „Die sind doch verrückt“, hat sie über die Deutschen gesagt.
So erzählt es Carly Abramovitz (30) in einem Kreuzberger Café. Die Südafrikanerin lebt seit 2014 in Deutschland. Vorher war sie noch nie da.
Nach dem Studium wollte die Psychologin, die einen deutschen Pass hat, etwas erleben. „Ich war bereit für ein neues Abenteuer.“ Von Bekannten hatte sie gehört, wie leicht und billig das Leben in Berlin sei. Aber sollte das wirklich stimmen?
Die ersten Wochen auf den Sofas von Bekannten in Neukölln und Kreuzberg waren hart. Sie fand die Stadt dunkel und schmutzig, die Leute auf der Straße wenig freundlich. Sie lernte: Man muss mutig sein, in einem Café nach einem Glas Gratis-Wasser zu fragen.
Manche Deutsche schienen nur zu warten, dass sie als Ausländerin etwas falsch machte. „Ich hatte einen totalen Schock hier“, sagt sie. Diese seltsamen Deutschen: Sie trinken tagsüber Bier und stehen bei für Südafrika winterlichen 17 Grad an den Eisdielen Schlange. Was sie an Berlin mag: das Radfahren und die Parks. Nachzulesen ist das Wechselbad, das sie erlebte, in einem Blog.
Carly Abramovitz ist eine von vielen jungen Ausländern in der Stadt. Die „Expats“, so heißen die internationalen Neulinge, prägen das Leben der Hauptstadt mehr als früher - und wahrscheinlich auch noch mehr als in anderen deutschen Städten.
Das Klischee, Berlin sei das New York Europas, ist übertrieben, aber nicht ganz falsch. Ob Kunst, Film, Theater, Comedy, Musik, Clubs, Start-up-Firmen oder Gastronomie: Ohne die internationalen Bewohner wäre die Stadt deutlich leerer und langweiliger. Nachteil: In manchen Cafés spricht die Bedienung kein Deutsch.
Da ist die Schwimmerin, die ein Jahr lang 52 Seen erkunden will und darüber ein Buch schreibt: aus Kanada. Die Künstlerin, die in einem Atelier Hunde zeichnet: aus Neuseeland. Der Künstler, der aus Bonbons Skulpturen macht: aus Australien.
Die Autorin der Serie „Deutschland 83“: aus den USA. Einer der Betreiber der Neuköllner Kinobar „Il Kino“ kommt aus Norwegen. Um die Ecke liegt das Café „Myxa“: in griechischer Hand. Auf einer Freiwilligenbörse bietet ein irischer Barbier kostenloses Haareschneiden für Obdachlose und Flüchtlinge an.
Poetisch zeigen sich Italiener in Berlin. Der Künstler Fabio La Fauci beklebt leere Pfandflaschen mit Gedichten und Sprüchen, um Flaschensammlern eine Freude zu machen. Der Marketing-Manager Federico Prandi erfindet deutsche Wörter und beschreibt damit Phänomene: „Haartalk“, für die unbeholfene Konversation mit dem Friseur, oder „Blauerschlaf“, für den tiefen Schlaf unter Alkohol.
Was Prandi an Berlin mag: das Wetter, das im Winter komplett anders ist als im Sommer. Das Weltstädtische, die Internet-Szene, die Toleranz, die Künstler und Kreativen. Und: „Ich kann mir etwas X-Beliebiges anziehen und das Haus verlassen, ohne mich schlecht zu fühlen.“ Was Prandi nicht mag: Im Supermarkt ist für ihn die durchschnittliche Auswahl und Qualität nicht so gut wie in Italien. Die Suche nach einer Wohnung oder einem Job kann sehr mühsam sein.
Ein Blick in die Statistik der 3,5 Millionen-Einwohner-Metropole: Nach dem Mauerfall ist die Zahl der Ausländer in Berlin von 386 000 (1992) auf 573 000 (2014) gestiegen, die vielen Flüchtlinge aktuell sind noch nicht eingerechnet.
Deutsche kommen wohl mit geringeren Erwartungen als Ausländer, die die Stadt nur aus dem Reiseführer kennen. Sie wissen, dass die Zeiten mit 200 Euro billigen WG-Zimmern vorbei sind und dass der Winter an der Spree gefühlte sechs Monate lang ist.
In New York, London oder Tel Aviv ist die deutsche Hauptstadt noch der billige und coole Sehnsuchtsort. „Berlin wirkt wie ein Magnet“, sagt Günter Neuhaus, Leiter der Spracharbeit am Goethe-Institut. Vor sieben Jahren waren es noch 6300 Kursteilnehmer, 2014 waren es 8300.
Beliebt ist Berlin auch bei jungen Israelis. Amir Naaman ist einer der Betreiber des Neuköllner Buchladens „Topics“. Berlin sei bequem für Expats, sagt der 31-Jährige. „Es war nicht meine erste Wahl, aber eine gute Wahl.“ Er fühle sich hier frei, nicht wie ein Immigrant. Israel vermisst er trotzdem.
Carly Abramovitz fragte sich lange „Gehöre ich hierher?“. Berlin schien ihr so grau und trist, bevor sie die schönen „Aha-Momente“ hatte. An einem Punkt wollte die Südafrikanerin schon der Stadt den Rücken kehren. Dann kam ein Jobangebot in einer Praxis. Jetzt bietet sie Therapiestunden - auf Englisch. Patienten wird sie in den kommenden Jahren in Berlin vermutlich noch viele finden.