Kasseler Regierungspräsident Was wir im Mordfall Lübcke wissen - und was nicht

Kassel/Wolfhagen · Im Fall des ermordeten Kasseler Regierungspräsident Walter Lübcke kommen mehr und mehr Fakten ans Licht, doch immer noch sind viele Fragen offen.

Der Mord an Walter Lübcke beschäftigt die Ermittler.

Foto: dpa/Swen Pförtner

Der Kasseler Regierungspräsident Walter Lübcke (CDU) wurde auf seiner Terrasse erschossen. Der 45-jährige Stephan E. aus Kassel hat die Tat gestanden. Doch immer noch sind Fragen offen. Ein Überblick:

Was wir wissen

TATVERDÄCHTIGE: Der 45-jährige Deutsche Stephan E. sitzt in Untersuchungshaft, nachdem ihn ein Spezialkommando Mitte Juni in seinem Haus in Kassel festgenommen hat. Zwei weitere Festnahmen stehen indirekt in Verbindung damit: Am Mittwochnachmittag wurde der 64-jährige Elmar J. aus dem Kreis Höxter in Nordrhein-Westfalen festgenommen, er soll Stephan E. 2016 die spätere Tatwaffe verkauft haben. Der 43-Jährige Markus H. aus dem Raum Kassel soll den Kontakt zwischen den beiden hergestellt haben. Bislang bestehen laut Ermittlern keine Anhaltspunkte dafür, dass die beiden von den konkreten Anschlagsplänen Kenntnis gehabt hätten.

VERGANGENHEIT: Laut Bundeskriminalamt hat E. eine „lange Latte von Straftaten“ begangen. Diese reicht laut Staatsanwaltschaft Wiesbaden bis in die Achtzigerjahre zurück. 1989 legte er demnach ein Feuer im Keller eines Mehrfamilienhauses im hessischen Aarbergen-Michelbach. Das Haus war überwiegend von türkischen Staatsbürgern bewohnt. 1992 stach er auf einer Toilette am Wiesbadener Hauptbahnhof auf einen ausländischen Mitbürger ein und verletzte ihn schwer. 1993 verübte er einen Anschlag mit einer Rohrbombe auf ein Asylbewerberheim im hessischen Hohenstein-Steckenroth. 1994 schlug er in der U-Haft mit einem Stuhlbein auf einen ausländischen Mitgefangenen ein. 2009 war Stephan E. dann in Dortmund an einem Angriff von Rechtsextremisten auf eine 1.-Mai-Kundgebung des DGB beteiligt. Für die drei Taten in den Neunzigerjahren bekam er sechs Jahre Jugendstrafe.

Verfassungsschutzpräsident Thomas Haldenwang zufolge trat Stephan E. in den vergangenen zehn Jahren nicht mehr so deutlich wie früher als Rechtsextremist in Erscheinung. Ein Bekannter aus seinem Schützenverein sagt, er sei dort nicht durch rechte Parolen aufgefallen.

Was wir nicht wissen

WEITERE TÄTER: Ob es weitere Täter gab, prüft die Bundesanwaltschaft. Ein Zeuge will in der Tatnacht einen Schuss gehört und 20 Minuten später zwei Autos bemerkt haben, die in „aggressiver Manier“ durch Lübckes Wohnort fuhren. Bereits im Haftbefehl gegen Stephan E. soll es laut dem Bericht „Hinweise auf Mittäter oder Mitwisser“ gegeben haben. Aber trotz der weiteren Festnahmen ging die Bundesanwaltschaft am Donnerstag nicht von der Bildung einer rechtsterroristischen Vereinigung aus. Der Tatverdächtige selbst sagte, er habe allein den Entschluss gefasst, den Regierungspräsidenten zu töten.

AUTO: Eines der beiden Fahrzeuge benannte der Zeuge als Volkswagen Caddy, das andere konnte er den Berichten zufolge nicht beschreiben. Später hätten die Ermittlungen ergeben, dass Stephan E. einen solchen VW Caddy fahre, der auf seine Frau zugelassen sei. Bei der Durchsuchung der Wohnung von Stephan E. hätten die Ermittler einen weiteren Autoschlüssel entdeckt, versteckt im CD-Fach eines Radios im Gäste-WC. Dieser gehöre zu einem Skoda, den Stephan E. kurz vor der Tatnacht von einem Familienmitglied übernommen haben soll. Dieses Auto ist bisher nicht aufgetaucht.

VERNETZUNG IN DER SZENE: Nach Behördenangaben hat sich Stephan E. nach 2009 mit rechtsextremistischen Aktivitäten öffentlich zurückgehalten. Die Ermittler prüfen allerdings, ob E. auch noch in den vergangenen Jahren Kontakte in die rechte Szene in Nordhessen hatte. Aktiv gewesen sind in der Region etwa die militante Gruppe „Combat 18“ und der 2015 verbotene Verein „Sturm 18“.

Ein Bericht des ARD-Magazins „Monitor“ über die Teilnahme von E. an einer konspirativen rechtsextremen Veranstaltung im sächsischen Mücka basierte offenbar auf einer Verwechselung. Das Magazin selbst erklärte mittlerweile, dass die Fotos von dem Treffen „höchstwahrscheinlich“ nicht den verdächtigen E. zeigten.

TATWAFFE: Lübcke wurde mit einer Schusswaffe ermordet - soviel weiß man. Die Ermittler haben auf einem Firmengelände in Kassel Waffen gefunden, die E. gehören sollen. Dass die Tatwaffe darunter ist, wurde offiziell noch nicht bestätigt. Der Verdächtige war Mitglied in einem Schützenverein, hat laut BKA aber keine Waffenbesitzerlaubnis für Schusswaffen gehabt. Berichte, dass der Verdächtige gestanden haben soll, auch über eine Pump-Gun und eine Maschinenpistole zu verfügen, sind offiziell noch nicht bestätigt.

E. hat nach Angaben der Bundesanwaltschaft gestanden, selbst Waffen verkauft zu haben. Daher habe die Staatsanwaltschaft Kassel Ermittlungen gegen zwei weitere Beschuldigte eingeleitet. Ein Zusammenhang mit dem Fall Lübcke sei bislang nicht erkennbar.

GENAUES MOTIV: Das genaue Motiv ist weiter unklar. Der Generalbundesanwalt hat aber erklärt, dass die Zuständigkeit seiner Ermittlungsbehörde durch die Einlassungen des Tatverdächtigen nicht entfallen sei. Das lässt auf ein politisches Motiv schließen. Denn nur dann ist ein Verbrechen ein Fall für die Bundesanwaltschaft. Was genau E. antrieb und warum er Lübcke als Opfer wählte, dazu äußerten sich die Ermittler bisher nicht. Sie gehen aber von einem rechtsextremen Hintergrund der Tat aus.

Bekannt ist, dass Lübcke schon vor der Tat wegen seiner Haltung zu Flüchtlingen bedroht worden war. Er hatte sich 2015 auf einer Informationsveranstaltung zu einer geplanten Flüchtlingsunterkunft gegen Schmährufe gewehrt und gesagt, wer gewisse Werte des Zusammenlebens nicht teile, könne das Land verlassen. Laut „Süddeutscher Zeitung“ soll E. ausgesagt haben, dass diese Versammlung für die Tat eine große Rolle gespielt habe.

ZEITPUNKT: Unklar ist, warum E. seit 2009 öffentlich nicht mehr auffiel mit rechtsextremistischen Aktivitäten. Seither sind zahlreiche Flüchtlinge ins Land gekommen. Falls er der Täter und die Tat eine Reaktion darauf sein sollte, bliebe immer noch offen, warum er genau jetzt zugeschlagen haben sollte, mehrere Jahre nach dem Höhepunkt des Flüchtlingszustroms.

(dpa)