Wenn Kinder viel zu dick sind
Fettsucht bei Heranwachsenden wird immer mehr zum Problem. Experten suchen Lösungen.
Leipzig. Der 16-jährige Junge, der zu Wieland Kiess in die Behandlung kam, wog 165 Kilo. Er hatte Bluthochdruck, Typ-2-Diabetes, den sogenannten Alterszucker, Gicht, hohe Fettwerte, Anzeichen einer Fettleber und Knieprobleme.
„165 Kilo bei 176 Zentimetern Körpergröße — das entspricht einem Body-Maß-Index von 53“, sagt Kiess, Professor für Kinderheilkunde und Direktor der Kinderklinik am Universitätsklinikum Leipzig. Übergewicht beginnt ab einem Body-Maß-Index (BMI) von 25.
Übergewicht ist längst nicht mehr Wohlstandsspeck, sondern ein großes medizinisches Problem. Mehr als die Hälfte aller deutschen Erwachsenen sind übergewichtig, etwa 20 Prozent sind fettleibig, also adipös. Bei den Kindern und Jugendlichen sind 16 Prozent übergewichtig und sechs Prozent adipös. „Adipositas kann bereits im Kindesalter zu schweren Begleiterkrankungen führen“, warnt Kiess.
Kiess arbeitet im „Kompetenznetz Adipositas“ mit Spitzenwissenschaftlern an Strategien gegen die Fettleibigkeit. Für die Weltgesundheitsorganisation WHO ist Adipositas eines der größten Gesundheitsprobleme unserer Zeit. Denn nicht nur immer mehr Menschen werden dick, sondern immer mehr Menschen bleiben es auch. Prof. Manfred Müller von der Universität Kiel: „Fast 80 Prozent der dicken Kinder und Jugendlichen bleiben auch als Erwachsene dick.“
Das Problem ist derzeit die Vorbeugung. „Die Erfolge der Präventionsprogramme sind sehr begrenzt“, sagt Müller, Sprecher des „Interdisziplinären Konsortiums zur Vorbeugung von Adipositas bei Kindern und Jugendlichen“. Und das liegt vor allem an den vielfältigen Ursachen. Denn es ist nicht das Essen allein.
Die größte Rolle spielen der soziale Status und das Übergewicht der Eltern. Weitere Gründe seien Bewegungsmangel und stundenlanger Medienkonsum, aber auch Rauchen und eine übermäßige Gewichtszunahme der Mutter in der Schwangerschaft (17 Kilo und mehr) sowie der Verzicht auf das Stillen.
Zudem spielt die Psyche eine entscheidende Rolle: „Viele Betroffene machen zwar Diäten, aber nur wenige schaffen es, ihr Gewicht dauerhaft zu senken“, sagt Prof. Martina de Zwaan, Leiterin der Psychosomatischen und Psychotherapeutischen Abteilung am Uniklinikum Erlangen. Das liegt am Jojo-Effekt.
Zudem haben laut de Zwaan adipöse Menschen ein um 55 Prozent erhöhtes Risiko für Depressionen und depressive Menschen wiederum ein um 58 Prozent erhöhtes Risiko für Adipositas. Deshalb müssten Adipöse psychologisch betreut statt stigmatisiert werden.
Gerade die wichtigsten Faktoren, die Bildung und das Übergewicht der Eltern, sind kaum zu beeinflussen, zumindest nicht kurzfristig. „Deshalb müssen wir uns nicht wundern, dass die bisherige Prävention so wenig bringt“, bilanziert der Kieler Ernährungswissenschaftler Müller. Nur über die Schwangerschaftsbegleitung oder über örtliche Programme könne man an die Eltern herankommen. „Die Vorbeugung in Kindergärten und Schulen darf keine Insel bleiben.“