Wie die Krise Ian Butler trifft – jeder achte Brite ist arbeitslos
Die „kleinen Leute“ spüren die Härte des Abschwungs.
London. Es war ein ganz gewöhnlicher Vormittag, als der Abschwung an Ian Butlers Tür klopfte. Seit längerem waren in dem Londoner Gutachterbüro schon die Aufträge zurückgegangen, heute aber würde die Krise seinen Job kosten. "Ich wusste, dass es nicht gut lief", sagt er ein Jahr nach der Kündigung, "aber ich dachte, sie würden zuerst die Sekretärin entlassen."
Einen Tag hatte Butler Zeit, seinen Schreibtisch zu räumen und den Dienstwagen zurückzugeben. Er tröstete noch die Sekretärin, die eine Stunde nach ihm zum Chef gerufen wurde. Dann war er, genau wie sie, arbeitslos.
Tausend Mal am Tag passiert das - auch in Deutschland. Doch die Krise wütet auf der Insel roher als anderswo, weil "Stoßdämpfer" fehlen, die den Schock absorbieren. Jeder achte Brite ist arbeitslos, Negativrekord seit 1997.
Von Zwangsversteigerungen über Kinderarmut bis zur Insolvenzrate lassen alle Sozialtrends den Kampf um den privaten Status quo erahnen. Das Königreich steckt als einziges G-20-Land noch immer tief in der Rezession.
Dass der Abschwung auf der Insel kein flüchtiger Schnupfen eines robusten Wirtschaftsriesen ist, hat auch Butler zu spüren bekommen. 300 Bewerbungen hat der Immobiliengutachter in den vergangenen zwölf Monaten geschrieben. Drei Firmen haben ihn eingeladen - vom Rest kam nicht einmal eine Absage. Seitdem zieht er in dieser teuren Metropole mit monatlich 300 Euro Arbeitslosengeld jeden Tag in einen Existenzkampf.
Das Paar streicht den Urlaub, die Restaurantbesuche, vereinbart mit der Bank eine Stornierung der Hypothek. Doch die Ersparnisse schmelzen nur so dahin. Sein einziger Rettungsring ist der Durchschnittslohn seiner Ehefrau - doch auch der hat seinen Preis. "Wissen Sie, wie es sich anfühlt, wenn Ihre Frau morgens bei Wind und Wetter raus muss, während Sie nutzlos im Haus zurückbleiben?", fragt er. "Man fühlt sich schuldig, unzulänglich, dreckig." Dabei hat er noch Glück: Ohne arbeitenden Lebenspartner sind viele Briten gezwungen, zurück zu ihren Eltern oder zu Freunden zu ziehen.
Die Symptome des Abstiegskampfs kriechen durch das ganze Viertel: Maklerbüros, kleine Cafés, das Kaufhaus, das Fitnessstudio, sie alle sind 2009 bankrott gegangen. Die Glasfassaden des Bankenviertels, wo die Krise begann, kann man in der Ferne schimmern sehen. Und dort ist die Lektion der Krise noch immer nicht angekommen, meint Butler. "Die üppigen Boni fließen wieder. Und wer ein Haus haben will, bekommt wieder einen 100-Prozent-Kredit."
So brachial hat die Krise die britische Arbeitswelt auf den Kopf gestellt, dass ganz neue Trends entstehen, die bald auch auf den "Kontinent" schwappen könnten: Neue Mitarbeiter werden häufig gar nicht mehr fest eingestellt, sondern erhalten nur noch "Kooperationsverträge". Auch Butler winkt ein solcher Deal. In einem Gutachterbüro kann er seiner alten Tätigkeit nachgehen, doch Urlaubsgeld, Kündigungsfristen und Sozialversicherungsbeiträge vom Arbeitgeber sind nicht mehr drin.
Nach einem Jahr ohne Arbeit freut der Londoner sich über diesen Strohhalm, auch wenn dieses Arrangement den Beginn einer neuen Ära markieren könnte, in der atomisierte Subunternehmer nach und nach den Angestelltenstatus ersetzen. Schon im Januar kann er anfangen - für ihn eine massive Erleichterung: "Ich will einfach mein altes Leben zurückhaben."