9/11-Überlebende Elinda Kiss: „Das Glück, noch am Leben zu sein“
Elinda Kiss ist eine der Überlebenden der Terroranschläge vom elften September 2001. Als morgens um 8 Uhr 46 eine Linienmaschine gegen die Nordseite von WTC 1, den Nordturm des World Trade Center raste, nahm Kiss gerade in einer tieferliegenden Etage an der Jahreskonferenz amerikanischer Chefvolkswirte teil. Wie im Verlaufe der nächsten Stunden Ungeduld und Pflichtbewusstsein wachsender Angst und schließlich unbeschreiblichem Horror wichen, das beschreibt die 64-Jährige im Gespräch mit unserem USA-Korrespondenten Peter DeThier.
New York. Elinda Kiss ist eine analytische, nachdenkliche und zuweilen auch fatalistische Frau. Dass sie nämlich überhaupt 10 Jahre später von jenem Tag berichten kann, der ihr Leben veränderte, das vedankt sie einem Wink des Schicksals.
Schließlich hatte sie an dem Morgen des 11. September 2001 eigentlich in ihrem Hotelzimmer bleiben und ausschlafen wollen.
Doch Kiss war gerade in den Vorstand der National Association of Business Economists (NABE) gewählt worden und durfte bei der Konferenz nicht fehlen: "Wäre ich in meinem Zimmer geblieben und nicht am frühen Morgen mit dem Fahrstuhl zum Ballsaal des Marriott Hotels gefahren, (das Bestandteil von WTC 1 war), dann hätte ich wohl dasselbe Schicksal erlitten wie viele Menschen, die sich auf meiner Etage aufhielten: Ich wäre unter den einstürzenden Trümmern des Wolkenkratzers ums Leben gekommen."
Kiss aber saß beim Frühstück und lauschte dem Vortrag eines prominenten Investmentmanagers, an dessen Namen sie sich allerdings nicht mehr erinnern kann. Dann geschah es.
"Ich weiß nicht mehr, was zuerst kam, ob es ein lauter Knall war oder das Schütteln der wuchtigen Kronenleuchter im Ballsaal. Eine Kollegin aus Kalifornien, die neben mir saß, meinte sogar halb scherzhaft, "Ich wusste garnicht, dass Ihr in New York auch Erdbeben habt!"
Gleich danach kamen bewaffnete Sicherheitskräfte und unterbrachen die Konferenz. Was geschehen war, sagten sie nicht, sondern nur, dass der Raum schnellstmöglich geräumt werden müsse. Durch einen Notausgang wurden die Gäste auf die Straße geführt. Sie reckten den Kopf und starrten auf eine dichte, dunkle Rauchwolke, die auf der Nordseite aus den oberen Stockwerken von WTC 1 emporstieg.
"Wir waren noch noch ziemlich gelassen" erinnert sich Kiss. "Alle waren sicher, es habe sich um einen Pilotenfehler in einer Cessna oder einem anderen kleinen Flugzeug gehandelt, das vom Kurs abgekommen war. Der Gedanke, dass es ein Terroranschlag gewesen sein könnte, war mir überhaupt nicht in den Sinn gekommen."
In dieser Sekunde, dessen entsinnt sich die Professorin noch sehr genau, war sie von Pflichtgefühl überkommen. "Ich saß nun im Vorstand, ich war für etwa 100 wichtige Akademiker verantwortlich, die alle ihre Jahresversammlung abschließen wollten. Mein Ziel war es, uns so schnell wie möglich wieder ins Konferenzzentrum zurückzuführen. Dass das ein fataler Fehler gewesen wäre, das ist wohl die Untertreibung des Jahrzehnts."
Natürlich durfte keiner zurück. Binnen weniger Minuten wurde das Gelände um die Zwillingstürme weiträumig abgeriegelt. Wie an jedem Dienstag Morgen geschäftiges Treiben im New Yorker Finanzdistrikt an der Südspitze Manhattans. Aktienhändler und Banker eilten zum Arbeitsplatz und nahmen im Vorbeigehen von der Rauchwolke Notiz.
Keiner, so erinnert sich Kiss, schien sonderlich beunruhigt zu sein. Wo aber sollte sie mit ihren Kollegen hin? Wie sollten sie kommunizieren, waren doch sämtliche Handys ausgefallen, da sich der Funkturm in genau jener Seite von WTC 1 befand, die die United Airlines Maschine getroffen hatte?
Die Professorin führte die Gruppe in ein wenige Straßenblocks entferntes Hilton Embassy Suites Hotel. Einige kontaktierten von Münztelefonen aus Angehörige, andere wuschen sich in den Hoteltoiletten den dunklen Staub von den Händen, der sich in der Luft vor dem Wolkenkratzer angesammelt hatte. Um 3 Minuten nach 9 stand Elinda Kiss vor dem Hotel und sah fassungslos zu, als ein zweites Flugzeug gegen WTC 2, den südlichen der Zwillngstürme prallte.
Erstmals beschlich sie der Verdacht, dass es Terrorismus gewesen sein könnte. Gemeinsam mit einer Gruppen von Kollegen machte sich Kiss auf den Weg in Richtung Penn Station, dem in der Stadtmitte Manhattans gelegenen Hauptbahnhof. Ziel war es, dort mit Zügen oder Fähren die Insel zu verlassen und wieder nach Hause zu kommen.
"Dann aber passierte es" erinnert sich Kiss. "Ein unbeschreiblicher Knall, der so laut war, dass ich das Scheppern im Trommelfell spürte. Menschen schrieen und alle begannen, so schnell sie konnten in die entgegengesetzte Richtung zu laufen. Ich hatte hohe Absätze an, es war unmöglich, schnell voranzukommen. Ich war bis dahin ruhig und gelassen, in der Sekunde aber wurde ich von Horror und Panik erfasst. "
Dass es sich bei dem Knall um den einstürzenden Südturm des höchsten Wolkenkratzers in Amerika handelte, wussten Elinda Kiss und ihre Kollegen zu diesem Zeitpunkt noch nicht. Sie liefen weiter. Als ihre Sohlen durchgetreten waren ging sie in ein Schuhgeschäft und konnte dort erstmals wieder das Handy benutzen, mit dem Kiss ihren Ehemann in Philadelphia erreichte.
"Mir fiel auf, wie unglaublich freundlich und hilfsbereit die Leute waren. Zwar herrschte auf den Straßen heillose Verwirrung, die Angst stand den Menschen ins Gesicht geschrieben. Trotzdem zeichneten sich die New Yorker, die an diesem Tag alle Opfer waren, durch eine bemerkenswerte Solidarität, ein ausgeprägtes Gemeinschaftsgefühl aus."
Ein Aufladegerät für ihr Handy bekam Kiss umsonst, ebenso das Bahnticket nach New Jersey, wo die Professorin am späten Nachmittag wieder in ihrem Büro an der Rutgers Universität eintraf. Ein halbes Jahr danach bimmelte ihr Handy, am anderen Ende eine fremde Männerstimme. Einer der Feuerwehrleute, die an den Bergungsarbeiten teilgenommen hatten, hatte unter den Trümmern des WTC den Laptop der Ökonomin gefunden und anhand einer Visitenkrate identifiziert, die an der Rückseite des Computers klebte.
Der zerstörte Laptop, ein denkwürdiges Relikt dieses tragischen Tages, wurde als Exponat in einer Ausstellung verwendet. Kiss bekam ihren Computer nie wieder, lediglich ein paar Fotos.
Niemals vergessen wird Elinda Kiss die Eindrücke von diesem horrenden Tag, die ihr ewig ins Gedächtnis gemeißelt sind. Überstanden hat sie die Tragödie mit einem gesunden Selbsterhaltungstrieb.
Elinda Kiss versucht, 9-11 zu verdrängen, nicht daran zu denken, und will von Besuchen am Ground Zero nichts wissen. Sie versucht es, doch selbst zehn Jahre danach sitzt der Schock noch tief. "Ich bin ein anderer Mensch, einer, der sich glücklich schätzt, zu den Wenigen zu gehören, die das Glück hatten, heute noch am Leben zu sein."