Analyse: Die SPD wagt einen Frühstart
Vor allen anderen Parteien haben die Sozialdemokraten mit ihrem Wahlkampf begonnen. Das könnte ihnen den entscheidenden Vorsprung bringen.
Berlin. Bei einem ordnungsgemäßen Wettlauf müssen alle Konkurrenten gleichzeitig losrennen. Ein Frühstart wird als Fehlstart bewertet. Die Politik ist zwar eine andere Disziplin, aber trotzdem beginnen Parteien ihre Wahlkämpfe meistens relativ zeitgleich. Diesmal nicht. Die SPD ist schon längst unterwegs, während von den anderen Parteien wenig zu sehen ist.
Sozialdemokraten geben serienweise Interviews und absolvieren seit Wochen Auftritte im Rahmen der Veranstaltungsreihe "Das neue Jahrzehnt". Auf allen Frequenzen sendet die SPD ihre Botschaft: Wir sind die soziale Partei, die schwache Schultern entlastet und starken Schultern mehr aufbürdet. Wir wollen eine Börsenumsatzsteuer von den Spekulanten, einen Lohnsteuerbonus für Geringverdiener, höhere Steuern von den Reichen.
Am Sonntag wird Kanzlerkandidat Frank-Walter Steinmeier im Berliner Tempodrom das Regierungsprogramm unter dem Titel "Sozial und demokratisch" vorstellen. Der Frühstart in den Wahlkampf ist riskant, weil die SPD sich angreifbar macht. Und angegriffen wird. Den Vorschlag, für den Verzicht auf eine Lohnsteuererklärung einen Bonus von 300 Euro zu gewähren, zerfetzten alle anderen Parteien mit einem hohen Grad an Empörung.
In den vergangenen Jahren haben Parteien von Demoskopen gelernt, dass Wahlkämpfe sich auf den letzten Metern entscheiden, weil immer mehr Wähler sich erst kurz vor dem Wahltag festlegen. Insofern erscheint das antizyklische Vorgehen der SPD auf den ersten Blick rätselhaft und provoziert die Frage: Was soll im September noch kommen? Auf den zweiten Blick aber kann der Frühstart sinnvoll sein. Wenn die Wirtschaftskrise im Sommer Massenentlassungen verursacht, wird die Große Koalition sich nicht aus der Regierungsverantwortung ins Wahlkampfgetöse verabschieden können, um eigene Themen zu setzen. Die Krise wird die Themen setzen, und zwar in heute nicht planbarer Weise.
"Politik ist Organisation." Das glaubt SPD-Chef Franz Müntefering so fest wie: "Opposition ist Mist." Wenn also im September kein anständiger Wahlkampf zu organisieren wäre, dann hätte man besser schon einen geführt. Erstens. Und zweitens könnte der Wahlkampf vor dem Wahlkampf für die SPD im glücklichen Fall erreichen, dass Menschen im Sommer bei wachsender Angst um ihren Job das Bild von den starken und schwachen Schultern bereits im Kopf hätten. Die SPD wirkte dann womöglich glaubwürdiger, weil sie ihre Positionen schon längst bezogen hätte und sich weniger Wahlkampftaktik unterstellen lassen müsste.
Der Wahlkampf 2005, in dem Gerhard Schröder spektakulär kämpfte und sich nach den Reformen der Agenda 2010 wieder als klassischer Sozialdemokrat präsentierte, litt hauptsächlich darunter, dass er ein Wahlkampf war. Viele enttäuschte Anhänger unterstellten Taktik und verwehrten der SPD ihre Stimmen, weshalb sie der Union knapp unterlag.