Analyse: Mehr Kinder brauchen Schutz vor der Familie
33710 Minderjährige wurden 2009 in Obhut genommen. Einen Grund dafür sieht der Kinderschutzbund in der Armut der Eltern.
Wuppertal/Hamburg. Lara Mia wog nur noch knapp fünf Kilo, als sie im März 2009 starb - das Doppelte wäre für ein neun Monate altes Baby normal gewesen. Wegen gefährlicher Körperverletzung, Misshandlung sowie Verletzung der Fürsorge- und Erziehungspflicht wurde die 19-jährige Mutter am Freitag vom Hamburger Landgericht zu einer Bewährungsstrafe von zwei Jahren verurteilt. Sie habe ihr Kind "böswillig vernachlässigt", sagte der Richter.
Der Fall Lara Mia ist ein besonders erschreckendes Beispiel. Unter Vernachlässigung und Misshandlung leiden in Deutschland jedoch zahlreiche Kinder und Jugendliche. Die Jugendämter nahmen im vergangenen Jahr 33710Minderjährige - 6438 davon in NRW - aus ihren Familien. Die Behörden mussten deutlich öfter einschreiten als 2008: Da brachten sie 32253 Kinder und Jugendliche (6000 in NRW) in einem Heim oder einer Pflegefamilie unter.
Friedhelm Güthoff, Geschäftsführer des Kinderschutzbundes Nordrhein-Westfalen, hat eine Vermutung, wo die Ursache für die alarmierende Tendenz liegt: "Unter der Armut und sozialen Perspektivlosigkeit der Eltern leiden vor allem die Kinder."
Immer häufiger seien es die Eltern selbst, die sich ans Jugendamt oder an andere Hilfsorganisation wenden, weil sie keine andere Lösung wissen. Erschreckend: Sogar Kinder und Jugendliche selbst würden immer öfter darum bitten, aus ihren Familien genommen zu werden. "Weil die Eltern sich etwa in den Alkohol flüchten", so Güthoff.
Geld - für Güthoff ein trauriger Grund, warum es wie bei Lara Mia oft zu spät ist, wenn die Behörden handeln: "Den Kommunen fehlt es oft an ausreichenden finanziellen Mitteln, Minderjährigen gute Beratung und Unterstützung anzubieten oder sie in passenden Einrichtungen unterzubringen. Der Tagessatz liegt da im Schnitt bei etwa 200 Euro."
Eine Lösung sieht Güthoff in einer "Existenzgrundsicherung" für Kinder: Für sozial schwache Familien müssten etwa Kindertageseinrichtungen kostenfrei sein. "Wichtig ist auch, dass es genug Anlaufstellen für gefährdete Familien gibt."
Für Güthoff gibt es aber noch eine andere Ursache, warum es 2009 zu mehr staatlichen Inobhutnahmen kam: "Schicksale wie das von Lara Mia und all den anderen Kindern haben sensibler gemacht. Jugendämter, Schulen und Erzieher nehmen Warnsignale schneller ernst, melden einen Verdacht öfter und schulen ihre Mitarbeiter in dieser Hinsicht. Auch der Nachbar schaut genauer hin, wenn es nebenan ständig Streit gibt."