Flucht aus der syrischen Armee
Ein junger Soldat berichtet, wie er den Befehl erhielt, auf sein eigenes Volk zu schießen. Er desertierte.
Münster. Mehr als 4000 Menschen sind laut den Vereinten Nationen seit dem Beginn der Unruhen in Syrien ums Leben gekommen. Am Mittwoch hat sich nun überraschend Syriens Präsident Baschar al-Assad in einem Interview mit dem US-Sender ABC geäußert.
Seine Behauptung: Die meisten Toten seien — anders als von der UN behauptet — nicht etwa Oppositionelle, sondern Anhänger seiner Regierung. Assad bestreitet außerdem, gewaltsam gegen sein Volk vorzugehen. Es habe lediglich „einige Fehler“ von Beamten gegeben. „Es gab keinen Befehl, zu töten oder brutal zu sein.“
In den Ohren von Walid al Qasch’ami klingt das wie Hohn. Der 22-jährige Syrer hat bis April in der Nationalgarde des Präsidenten gedient und bezeichnet sich selbst als den ersten Deserteur der syrischen Armee.
Über Umwege floh der Syrer nach Ägypten, gelangte schließlich durch den deutschen Botschafter in Kairo als politischer Flüchtling nach Deutschland. „Ich warte darauf, dass das Regime stürzt, dann kehre ich sofort nach Hause zurück“, sagt der Mann, der derzeit unter Deutsch-Syrern wie ein Held gefeiert wird und sich im Gespräch mit unserer Zeitung per Dolmetscher verständigt.
Seine Geschichte ist eine Art Innenansicht des syrischen Systems. Im Oktober 2010 wird der junge Mann aus der Provinz zum Wehrdienst eingezogen. Er kommt in die Poststelle der Nationalgarde, einer Sondereinheit, die für die Bewachung des Präsidenten zuständig ist.
Als sich die Unruhen im April ausweiten und es vor allem in der Region Homs im Nordwesten zu Protesten gegen das Regime kommt, wird seine Einheit in die dort gelegene Stadt Rastan geschickt.
„Das war ungewöhnlich, die Nationalgarde ist normalerweise nicht an militärischen Einsätzen beteiligt, sondern bewacht den Präsidentenpalast in Damaskus“, sagt Walid.
Der Truppe wird gesagt, dass in der Stadt bewaffnete Banden ihr Unwesen treiben. Sie erhalten Schießbefehl. „Erst vor Ort habe ich gesehen, dass da ganz normale Menschen auf der Straße demonstrieren. Ich sollte Unschuldige töten“, erinnert sich der 22-Jährige, der auch erst in dem Moment erfährt, dass es überhaupt einen Aufstand gegen das Regime gibt.
Es folgt eine Art Kurzschlussreaktion. Walid berichtet, dass er sich den Demonstranten anschließt, sich von ihnen zunächst verstecken lässt. Mit einem Ganzkörperschleier verhüllt, sei er an die jordanische Grenze und von dort weiter nach Kairo gelangt.
Erst seit zwei Wochen ist Walid al Qasch’ami in Deutschland. Angst, dass er oder seine Familie vom Regime verfolgt werden, habe er nicht. Seine erfolgreiche Flucht habe ihn gelehrt, dass ein gutes Ende möglich sei. Schließlich hatte er zuerst selbst nicht daran geglaubt, dass er überleben würde. „Nach meiner Flucht war mein erster Gedanke: Du bist so gut wie tot.“
Walid glaubt nicht an einen Rücktritt des Assad-Regimes. „Es wird keine friedliche Lösung geben“, schätzt er. Eine Militärintervention wie in Libyen lehnt er dagegen ab. „Ich hoffe, dass sich weitere Deserteure zu einer Befreiungsbrigade zusammentun und das Regime aus eigener Kraft stürzen.“