Wende im ukrainischen Machtkampf - Timoschenko bald frei?
Kiew (dpa) - Nach dem Blutvergießen soll ein Friedensschluss die aufgeheizte Stimmung in der Ukraine beruhigen. In Kiew unterzeichneten Präsident Viktor Janukowitsch und Oppositionsführer ein Abkommen zur Lösung der Staatskrise.
Das Parlament setzte mit hohem Tempo erste Beschlüsse durch. So soll die Rückkehr zur Verfassung von 2004 die Machtfülle des Staatschefs erheblich beschneiden - eine Kernforderung der Opposition. Zudem brachte die Oberste Rada ein Gesetz für eine Freilassung der inhaftierten Oppositionsführerin Julia Timoschenko auf den Weg.
Trotz der Beschlüsse ist allerdings zweifelhaft, ob das Land nach der jüngsten Gewalteskalation mit mindestens 77 Toten rasch zur Ruhe kommt. Auf dem Unabhängigkeitsplatz (Maidan) forderten am Freitagabend Zehntausende Regierungsgegner den sofortigen Rücktritt Janukowitschs. Redner drohten, die Präsidialverwaltung zu stürmen und den Kampf gegen die Führung fortzusetzen, wenn Janukowitsch sich nicht dem Willen der Menschen auf dem Maidan beuge. Die Oppositionsführer wie Vitali Klitschko wurden mit Pfiffen und Buhrufen empfangen.
Zuvor hatten die Konfliktparteien unter Vermittlung auch von Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier vorgezogene Präsidentenwahlen bis zum Dezember statt im März 2015 beschlossen. Zudem vereinbarten sie eine Übergangsregierung unter Beteiligung der Opposition und eine Rückkehr zur parlamentarischen Demokratie. Die EU, die USA und die Nato begrüßten dies. Die EU-Außenbeauftragte Catherine Ashton betonte, sie sehe nun auch die Chance für Finanzhilfen für die nahezu bankrotte Ukraine.
„Wir wollen uns nicht zu früh freuen“, sagte Steinmeier nach seiner Rückkehr aus der Ukraine am Rande des Matthiae-Mahls in Hamburg. Es sei eine Rahmenvereinbarung getroffen worden, die jetzt durch die Politik ausgefüllt werden müsse. Der SPD-Politiker sagte, er sei jedoch zufrieden, dass offenbar auch die Führung in der Ukraine erkannt habe, dass die Eskalation der Gewalt keine Lösung ist. Auch Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) sah nach den Verhandlungen eine vorsichtige, letzte Chance, nun zu einem politischen Prozess zu kommen.
Die Oberste Rada in Kiew stimmte zudem überraschend mit großer Mehrheit für ein Gesetz, das die Vorwürfe des Amtsmissbrauchs gegen Timoschenko nicht mehr als Straftaten wertet. Die USA begrüßten den Schritt. Die Ex-Regierungschefin war Anführerin der demokratischen Orangenen Revolution von 2004, Janukowitsch ist ihr Erzfeind.
Zudem votierten die Abgeordneten ohne Gegenstimmen dafür, die Macht des Präsidenten deutlich zu beschneiden und das Parlament zu stärken. Janukowitsch muss beide Gesetze noch unterzeichnen, damit sie in Kraft treten.
Die Oberste Rada setzte darüber hinaus den umstrittenen Innenminister Witali Sachartschenko ab. Die Opposition macht den 51-Jährigen für brutale Einsätze der Polizei gegen friedliche Demonstranten verantwortlich. Allein am Donnerstag hatten unbekannte Scharfschützen Dutzende Regierungsgegner erschossen.
Nach dem von Steinmeier sowie dessen französischem und polnischem Kollegen mit ausgehandelten Friedensplan soll nun innerhalb von zehn Tagen eine Regierung der nationalen Einheit gebildet werden, unter Einschluss der Opposition. Gegen Verantwortliche für die Gewalteskalation soll zudem ermittelt werden - unter Aufsicht der Regierung, der Opposition und des Europarats. Das Parlament beschloss zugleich einen Straferlass für alle Demonstranten, die bei den gewaltsamen Protesten der vergangenen Tage festgenommen worden waren.
Schon jetzt scheint Janukowitschs Machtbasis zu bröckeln. Ihm gehen nach den Zugeständnissen an die Opposition immer mehr Abgeordnete seines Lagers von der Fahne. Bereits gut zwei Dutzend Politiker der regierenden Partei der Regionen verließen die Fraktion. Sie hatte zuletzt 205 von 450 Sitzen.
Möglich wurde das Abkommen, nachdem eine EU-Delegation um Steinmeier sowie der russische Vermittler Wladimir Lukin die ganze Nacht hindurch mit Janukowitsch und Oppositionsführern verhandelt hatten. Als die Vereinbarung stand, holten Steinmeier und sein polnischer Kollege Radoslaw Sikorski die Zustimmung des sogenannten Maidan-Rates ein. Dem Gremium gehören verschiedene Gruppen von Regierungsgegnern an, die seit Monaten im Kiewer Stadtzentrum demonstrierten, darunter auch Radikale und Gewaltbereite. Kritiker bezweifeln aber, ob der Rat tatsächlich die Kontrolle über alle Demonstranten hat.
Der russische Vermittler Lukin unterzeichnete die Vereinbarung zwar nicht, weil es noch „offene Fragen“ gebe. Er kündigte aber nach seiner Rückkehr in Moskau an, er wolle die Gespräche fortsetzen.
Die Demonstrationen in der Ukraine hatten Ende November 2013 begonnen, nachdem Janukowitsch auf Druck Russlands ein historisches Abkommen mit der EU kurzfristig auf Eis gelegt hatte.
Aus Protest gegen die ukrainische Führung trat Vizegeneralstabschef Juri Dumanski zurück. Das Militär solle in einen Bürgerkrieg gezerrt werden, sagte er dem regierungskritischen Fernsehsender 5. Kanal.