Brexit? Die spinnen, die Briten
Nicht Fakten, sondern Gefühle bestimmen auf der Insel die Debatte um den Austritt aus der EU. Kommt es zur Scheidung, wird es viele Verlierer geben.
Düsseldorf. Die Skepsis der Briten gegenüber Europa hat eine lange Tradition. Sonderwünsche aus London gehören seit Jahrzehnten zum politischen Geschäft, ob gerechtfertigt oder nicht. Besonders erfolgreich bei diesem Spiel war Margaret Thatcher. Mit ihrer legendären Forderung „I want my money back“ (Ich will mein Geld zurück) setzte die konservative britische Premierministerin 1984 den sogenannten Britenrabatt durch. Seitdem bekommt das Land einen Teil seiner Überweisungen aus Brüssel zurückerstattet. Rund 111 Milliarden Euro hat das Königreich auf diese Weise seitdem gespart.
Ginge es nur um Fakten, wäre der Ausgang des Referendums am 23. Juni eine klare Sache. Eine große Mehrheit der etwa 45 Millionen Wahlberechtigten in England, Schottland, Wales und Nordirland würde sich dafür aussprechen, Mitglied der EU zu bleiben. Denn Großbritannien ist mit dieser Gemeinschaft bestens gefahren.
Bevor die Briten 1973 in die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG), Vorgängerin der EU, eintraten, ging es ökonomisch auf dem Festland flotter voran als auf der Insel. Seit 1980 aber wächst das Königreich schneller als die großen drei der EU — Deutschland, Frankreich und Italien.
London verdankt seinen Aufstieg zum globalen Finanzplatz vor allem dem Umstand, dass dort die Geschäfte für Europa abgewickelt werden. Die britische Finanzindustrie trägt knapp zehn Prozent zur Wirtschaftsleistung des Landes bei. Nach einem Brexit wäre es mit der Herrlichkeit vorbei. Vermutlich würde sich ein maßgeblicher Teil des Geschäfts nach Frankfurt verlagern.
Der Wiederaufstieg Großbritanniens zu einem erfolgreichen Autobauer konnte nur gelingen, weil ausländische Konzerne von der Insel ganz Europa beliefern. BMW, Honda, Toyota und Nissan betreiben britische Fabriken, weil sie von dort zollfrei nach Europa liefern können. Damit wäre es ohne EU-Mitgliedschaft ganz sicher vorbei.
Das interessiert die Brexit-Befürworter aber nicht. Sie setzen auf Gefühle, spielen mit den Ängsten der Menschen. Allen voran Boris Johnson. Londons ehemaliger Bürgermeister ist die Leit-Figur der Anti-EU-Kampagne. Für den 51-Jährigen ist die EU der Quell allen Übels, die Scheidung eine Erlösung. Brüssel sei eine Diktatur, die Großbritannien abschütteln müsse. Nur dann könne das Land die EU-Migranten aus Osteuropa stoppen. „Die Einwanderung überrollt uns“, behauptet der Brexit-Lautsprecher. Dass die „Invasoren“ mehr Geld in die Sozialkassen einzahlen, als sie entnehmen, verschweigt er.
Johnson rollt in einem roten Bus über die Insel. „Wir schicken der EU 50 Millionen Pfund pro Tag“ — so prangt es an der Seite des Gefährts. Die Zahl ist falsch. Zieht man den Britenrabatt und die Fördergelder ab, bleibt gerade noch die Hälfte übrig. Der konservative Politiker lässt auch Wahlplakate mit der Aufschrift „Die Türkei tritt der EU bei“ drucken, ohne mit der Wimper zu zucken.
Johnson weiß, dass er mit unrichtigen Fakten arbeitet. Aber er ändert sie nicht. Dazu gibt es aus seiner Sicht auch keinen Grund, denn die Lügen schaden ihm offenbar nicht.
Es ist wie bei Donald Trump, der Präsident der USA werden will und sich immer wieder in Widersprüche verwickelt: Der Botschafter zählt, nicht die Botschaft. Selbst rechtspopulistische Ausfälle wie der Vergleich zwischen Hitler und der EU lassen die Zustimmung für Johnson nicht in den Keller sinken.
Dass der Brexit-Mann so stark wirkt, hat allerdings auch sehr viel mit der Schwäche seines wichtigsten Gegenspielers zu tun: David Cameron, britischer Premierminister. Wie Johnson gehört er den Tories an, den Konservativen. Und jahrelang inszenierte sich Cameron als oberster EU-Skeptiker im Königreich. Sich jetzt für die Gemeinschaft ins Zeug zu legen, überzeugt nicht.
Cameron gilt als Taktiker, der den Briten das Referendum nur in Aussicht gestellt hat, um wiedergewählt zu werden. Dass es tatsächlich eine Mehrheit für den Brexit geben könnte, hatte Cameron nie wirklich auf der Rechnung. Diese Strategie könnte im Desaster enden. Sollte der britische Premier bald Johnson statt Cameron heißen, drohen ökonomische und politische Verwerfungen, deren Ausmaße sich kaum ermessen lassen.
Viele fürchten einen Dominoeffekt. Was geschieht, wenn andere Länder dem Beispiel Großbritanniens folgen? Die Front-National-Vorsitzende Marine Le Pen hat bereits ein eigenes Referendum angekündigt, falls sie die französische Präsidentschaftswahl im nächsten Jahr gewinnen sollte. „Der Brexit könnte der Beginn der Zerstörung nicht nur der EU, sondern der gesamten politischen Zivilisation des Westens sein“, sagte EU-Ratspräsident Donald Tusk. „Politisch würde ein Austritt alle radikalen Anti-Europäer in den EU-Staaten anfeuern.“
Um das zu verhindern, hält sich die deutsche Kanzlerin Angela Merkel aus der Brexit-Debatte heraus. Vermutlich eine kluge Entscheidung. Denn alle noch so gut gemeinten Plädoyers für eine weitere EU-Mitgliedschaft der Briten könnten genau das Gegenteil bewirken — noch mehr Stimmen für den Austritt. Der Reflex, sich gegen jede Bevormundung aus Berlin sofort zur Wehr zu setzen, ist auf der Insel so ausgeprägt wie sonst nirgendwo auf der Welt. Als einziges Mitglied der Bundesregierung wagte sich Wolfgang Schäuble nach vorne. In einem „Spiegel“-Interview lobt der Bundesfinanzminister die Briten für ihre Rolle in der EU und fordert sie auf, der Gemeinschaft nicht den Rücken zu kehren. Schäuble sagt aber auch ganz klar, dass Großbritannien nicht von den Vorteilen des Binnenmarktes profitieren kann, ohne Mitglied der EU zu sein. „Das wird nicht funktionieren. In is in. Out is out“, so Merkels wichtigster Minister.
Tatsächlich behaupten die Brexit-Protagonisten, die Briten könnten nach einem Austritt wie Norwegen vom EU-Markt profitieren, ohne zu zahlen und Brüssel zu gehorchen. Wieder gilt: dummes Zeug. Pro Kopf zahlt Oslo 90 Prozent des Betrags, den Brüssel von London kassiert. Der Gewinn hält sich also in Grenzen. Was schwerer wiegt: Norwegen muss fast alle EU-Verordnungen übernehmen, hat beim Ringen um die Regeln des Marktes aber kein Stimmrecht. Überdies gilt für Länder wie Norwegen genau jene Bewegungsfreiheit für Arbeitnehmer, die die Brexisten so sehr verteufeln.
In Wahrheit sind die Möglichkeiten der Briten, Ausländer nicht ins Land zu lassen, in der EU erheblich besser, als es die Brexit-Anhänger darstellen. Denn Großbritannien hat das Schengener Abkommen zur Aufhebung der Passkontrollen an den Binnengrenzen nicht unterschrieben. Anders als die Deutschen beispielsweise können sich die Briten den Migranten aus Nahost und Afrika also komplett verweigern, wenn sie es für richtig halten. Trotzdem fehlt die Hetze gegen Flüchtlinge in keiner Rede von Boris Johnson.
Nach dem abscheulichen Mord an der Labour-Abgeordneten Jo Cox, die sich leidenschaftlich für einen Verbleib des Landes in der EU eingesetzt hat, werden die Wahlkämpfer nur kurz innehalten. Dann folgen die nächsten hasserfüllten Ausfälle gegen eine EU, die angeblich verhindert, dass Großbritannien zu alter Größe zurückfindet. International gibt es dafür nur von Donald Trump Beifall. Mindestens das sollte die Brexit-Fans sehr nachdenklich stimmen.