Herr Pöttering, warum ist vielen Bürgern die Lust auf Europa abhandengekommen?
Interview zur Europawahl CDU-Politiker Hans-Gert Pöttering: „Brüssel sind wir alle“
Berlin. · Interview Für Hans-Gert Pöttering steht fest: Die anstehende Europawahl ist die bisher wichtigste.
Hans-Gert Pöttering kennt die europäischen Institutionen wie kaum ein Zweiter. Der CDU-Politiker war von 1979 bis 2014 Mitglied des Europäischen Parlamentes, von 2007 bis 2009 sogar dessen Präsident. Für Pöttering steht fest: Die anstehende Europawahl ist die bisher wichtigste. Straßburg als einer von zwei Parlamentssitzen müsse erhalten bleiben, sagt Pöttering im Gespräch mit dieser Zeitung.
Hans-Gert Pöttering: Diese Feststellung trifft nicht zu. Die große Mehrheit der Menschen, und das zeigen Umfragen, möchte, dass die Europäische Union stark und handlungsfähig ist. Sie wollen im Kern ein vereintes Europa.
Warum erleben die Europagegner und Populisten dann so einen Aufschwung?
Pöttering: Wir haben Entwicklungen in nahezu allen Ländern der EU, die rückwärtsgewandt sind. Weil der Nationalismus und der Populismus die Menschen anspricht. Das hängt auch damit zusammen, dass manche Probleme nicht gelöst sind. Dazu gehören die Migrationsfrage, eine stärkere, gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik und erkennbare Bemühungen beim Klimaschutz.
Neu sind diese Probleme nicht.
Pöttering: So wenig ist auch nicht passiert. Wenn Sie an den Klimaschutz denken, hat die EU die Führung übernommen. Als Parlamentspräsident habe ich schon 2009 die erste Klimaschutzgesetzgebung unterschrieben. Nur ist es nicht gelungen, den Menschen das hinreichend deutlich zu machen.
Werden die Ereignisse in Österreich bei der Wahl für die Nationalisten ein Dämpfer sein?
Pöttering: Das skandalöse Verhalten des FPÖ-Vorsitzenden zeigt, wie skrupellos populistische und nationalistische Parteien mit den Grundwerten unserer Demokratie umgehen. Ich hoffe, dass die Bürgerinnen und Bürger diesen bedenkenlosen Politikern dafür eine Quittung geben, auch jetzt bei den Europawahlen.
Mischt sich die EU zu häufig ins Alltägliche der Bürger ein? Oder ist das nur ein Vorurteil?
Pöttering: Ich glaube, die Europäische Union ist zunehmend bemüht, sich um die großen Fragen zu kümmern. Der noch amtierende Kommissionspräsident Juncker hat nach seinem Amtsantritt 2014 auch ausdrücklich veranlasst, dass nur die Themen auf den Tisch kommen, die für alle Bürger von Bedeutung sind und nicht jedes kleine Detail. Das ist die richtige Richtung.
Aber wie vermittelt man Europa richtig?
Pöttering: Indem man sagt: Europa ist ein Teil von uns. Es gibt drei Identitäten: Heimat, Vaterland und Europa. Hinzufügen muss man, wer nur seine Heimat sieht, wird sie nicht schützen, wer seine eigene Nation über alle anderen stellt, wird zum Nationalisten. Und wer sich nur als Europäer empfindet, der hat keine Wurzeln. Deswegen gehören die drei Identitäten zusammen.
Haben die Briten ihre europäische Identität verloren?
Pöttering: In Großbritannien ist vieles falsch gemacht worden. Insbesondere der frühere Premierminister Cameron ist eine tragische Persönlichkeit. Er hat ohne Not damals das Referendum auf den Weg gebracht. Und er hat immer schlecht über die europäischen Institutionen gesprochen. Daraus sollten wir lernen. Wir sollten gerecht mit den europäischen Institutionen in Brüssel und Straßburg umgehen. Und auch die nationalen Regierungen sind Teil der Entscheidungen, die gefällt werden. Brüssel sind wir alle.
Stimmen Sie denn der CDU-Chefin Kramp-Karrenbauer zu, den zweiten Sitz des EU-Parlaments in Straßburg abzuschaffen?
Pöttering: Eine solche Entscheidung kann nur durch einen einstimmigen Beschluss der Regierungen gefällt werden. Wir wissen, Frankreich möchte an Straßburg festhalten. Das ist sehr verständlich: Straßburg ist ein historischer Ort auch für die Versöhnung von Frankreich und Deutschland. Im Übrigen hilft eine solche Diskussion nur den Rechten in Frankreich. Deswegen würde ich die Debatte nicht führen. Lasst uns an Straßburg festhalten.
Rechnen Sie mit einer hohen oder niedrigen Wahlbeteiligung?
Pöttering: Ich bin kein Prophet. Es geht um viel, die pro-europäischen Parteien müssen die Wahl sehr, sehr ernst nehmen. Der Fall Strache hat ja noch einmal gezeigt, um was es geht. Die Wahl am Sonntag ist die wichtigste Europawahl seit 1979, als das Europäische Parlament erstmals gewählt wurde.