Cem Özdemir: Wir stehen für ein grünes Projekt
Der Bundesvorsitzende von Bündnis 90/Die Grünen über die Jürgen Rüttgers, die kommenden Landtagswahlen in NRW und Bundespolitik.
Herr Özdemir, wie waren Sie in der Schule in Mathe?
Özdemir: Oh je, nicht gut.
Was macht 41 plus elf?
Özdemir: Ok, ich weiß schon, worauf sie hinauswollen. Also gut: Das wäre reinrechnerisch eine Mehrheit für Schwarz-Grün in NRW. Für eine politischeMehrheit müssen aber auch die Inhalte zusammenpassen.
Was bräuchte es für eine schwarz-grüne Koalition in NRW?
Özdemir: Das Ziel heißt Rot-Grün. Wir kämpfen für eine Generalrevision der derzeitigen Politik. Dazu gehören der Verzicht auf den Neubau von Kohlekraftwerken, die Abschaffung des dreigliedrigen Schulsystems, die Abgabe der Kultusbürokratie nach unten, stärkere Einzelförderung für Kinder und die Einführung von Mindestlöhnen.
Sind die Gräben zur CDU unüberwindbar?
Özdemir: Wir haben klare Standpunkte. Wie wendig die CDU ist, muss sie selbst
entscheiden.
Wo gibt es Gemeinsamkeiten mit der CDU?
Özdemir: Mein Freund Armin Laschet macht viele kluge Dinge, vor allem da, wo er grüne Politik umsetzt. Wo es um die Wurst geht - siehe Bildungspolitik - rückt aber er ins Glied zurück. Ich bin sicher, dass viele in der NRW-CDU wissen, wie zukunftsfeindlich ihre Bildungspolitik ist. Selbst CDU-Bürgermeister sehen ihre Schulen wegen des demographischen Wandels ohne eine Fusion vor dem Aus. Doch dafür bekommen sie keinen Spielraum. Die CDU blockiert ihre Bürgermeister. In der Bildungspolitik ist die CDU von uns diametral entfernt.
Schwarz-Grün in NRW müsste für Sie doch auch aus Bundessicht höchst reizvoll sein. Die Bundesratsmehrheit für Schwarz-Gelb wäre futsch und damit die große Steuerreform.
Özdemir: Unabhängig vom Koalitionspartner würden wir im Bundesrat den Irrsinn von Steuersenkung und Kopfpauschale verhindern. Womöglich wünscht sich Frau Merkel insgeheim sogar, dass wir im Bundesrat den größten Wahnsinn der FDP stoppen, weil sie nicht die Kraft hat.
Ministerpräsident Rüttgers hat sich kürzlich von den Steuerplänen der FDP distanziert. Setzt er sich von seinem Koalitionspartner in NRW ab?
Özdemir: Rüttgers gibt sich beweglich. Wir messen ihn aber nicht an seinen Panikreaktionen, sondern an Taten. Er will Kohlekraftwerke bauen, beharrt auf dem dreigliedrigen Schulsystem und hat den Irrsinn aus Berlin wie das Wachstumsbeschleunigungs-gesetz mitgetragen. Rüttgers rückt immer von seiner bisherigen Politik in NRW ab, je schlechter die Umfragen für die FDP werden. Man fragt sich mittlerweile, wofür er eigentlich steht.
Wofür?
Özdemir: Für viel Taktik und aufgesetzte Sozialromantik. Wenn es Rüttgers ernstwäre, müsste er sich mit uns etwa für Mindestlöhne einsetzen. Es ist ja schnell dabei, sich vor Supermärkte zu stellen und die Ausbeutung der Mitarbeiter anzuprangern. Es fehlt nur noch, dass er sich zusammen mit Minister Laumann an ein Fabriktor kettet, womit ich stündlich rechne. Allerdings tut Rüttgers nichts gegen die Niedriglöhne, die kaum zum leben reichen.
Ein Rüttgers mit einem schwarz-grünen Kabinett wäre ein anderer als mit der FDP.
Özdemir: Die CDU hat gute Gründe, wenn sie sich für die FDP entscheidet. Die FDP wird immer billiger zu haben sein.
FDP-Vize Andreas Pinkwart hat offenbar seine Zweifel, dass Rüttgers nicht doch mit dem Grünen koalieren würde. Wie erklären Sie sich sonst dessen jüngsten Angriff, nachdem die Grünen das land ruinieren, sobald sie die Gelegenheit dazu haben?
Özdemir: Herr Pinkwart und die FDP sehen ihre Felle davonschwimmen und werden immer nervöser. Jetzt immer wilder um sich zu schlagen und noch mehr und noch schneller vom Falschen zu wollen, wird der FDP da aber auch nicht helfen.
Die NRW-Grünen hätten lieber ein Bündnis mit der SPD.
Özdemir: Wir haben eine klare Präferenz für die SPD. Die beruht nicht auf guten Erfahrungen mit den Sozialdemokraten. Aber in der Umwelt- und Bildungspolitik stehen wir der SPD näher als der CDU.
Vom rot-grünen Projekt spricht Frau Löhrmann aber nicht.
Özdemir: Ich auch nicht. Die Zeit der rot-grünen Modelle ist vorbei. Wir stehen für ein grünes Projekt. Das bedeutet auch: Wenn wir unsere Inhalte nicht durchsetzen können, bleiben wir in der Opposition.
Herr Özdemir, zurück zur Bundespolitik. Was macht ihr Hals? Irgendwelche Schmerzen oder Druckstellen?
Özdemir: Bis jetzt nicht. Sollte ich welche haben?
Offenbar schon, CDU-Mittelstandspolitiker Michael Fuchs wetterte unlängst, Umweltminister Röttgen habe sich mit seiner Forderung zum Atomausstieg den Grünen an den Hals geworfen.
Özdemir: Davon habe ich bislang nichts gemerkt. Norbert Röttgen fährt einenZickzackkurs. Ein Beispiel: Viele in der Union haben die interessantere Aussage Röttgens überlesen.
Welche?
Özdemir: Er sagt, wenn wir den Anteil der erneuerbaren Energien an der Stromversorgung bis 2020 auf 40 Prozent erhöhen, braucht man die Atomenergie nicht. Der Bund spricht von 30 Prozent bis 2020, der Verband der erneuerbaren Energien rechnet mit 48 Prozent. Wenn die Regierung die erneuerbaren Energien nicht bewusst ausbremst, und dieser Verdacht drängt sich auf, dann erreichen wir die 40 Prozent 2020. Das wäre ein Ausstieg aus der Atomenergie sogar noch zwei Jahre vor dem rot-grünen Ausstieg. Gleichzeitig macht sich Röttgen für 40 Jahre Laufzeiten stark, das wären acht Jahre mehr als unter Rot-Grün vereinbart. Wäre Röttgen konsequent, dürfte er die Solarförderung nicht derart reduzieren, dass er damit die Branche zum Absterben bringt.
Trotz heftiger Kritik aus den unionsgeführten Ländern in Süddeutschland hält Röttgen an seinem Kurs zum Atomausstieg fest. Steuert er mit Billigung der Kanzlerin so nicht direkt auf die Grünen zu?
Özdemir: Umweltminister Röttgen und Kanzlerin Merkel haben offensichtlich diese Debatte angestoßen, um die FDP zu provozieren und sich ein grünes Mäntelchen umzuhängen. Solange Umweltminister Röttgen aber den Ausstieg aus dem Atomausstieg rückgängig machen will, und das will er, und der Solarbranche an den Kragen geht, steuert er keineswegs auf die Grünen zu. Aber die Reaktionen auf Röttgen aus den eigenen Reihen zeigen, in welchem Ausmaß das sture Festhalten an der Atomkraft ein ideologischer Grundpfeiler der Union ist, die ja auch traditionell eng mit der Atomlobby verbandelt ist.
Ob Gesundheits- und Steuerreform oder Energiekonzept. Die großen Baustellen will die Bundesregierung erst nach der NRW-Wahl angehen. Kann sich das Land dies erlauben?
Özdemir: In vielen Bereichen hat Schwarz-Gelb den Streit auf die Zeit nach der NRW-Wahl verschoben. Das wurde etwa kaschiert durch die Steuerschätzung. Die Regierung tut so, als würde es dann im Mai ganz plötzlich Manna vom Himmel regnen. Die FDP wiederum plant nun noch radikalisiertere Steuersenkungsorgien. Da starrt man erstaunt aufs Kanzleramt und wartet vergeblich auf die ordnende Hand durch Frau Merkel. Stattdessen vermehrt sich das Chaos. Ich begann damals zur Zeit der Chaostage mit der Politik. Damals dachte ich, schuld daran wären schwarze Vermummte. Mittlerweile weiß ich, dass Chaostage auch von Anzugträgern mit Krawatten angerichtet werden. Manche davon sind Minister in dieser Bundesregierung.
Wird Frau Merkel mit ihrer abwartenden Haltung ihrem Amt noch gerecht?
Özdemir: Derzeit erfüllt sie ihre Aufgabe nicht, indem sie sich bei wichtigen Themen wegduckt und hofft, die Zeit werde die Probleme lösen. Ein moderierender Stil in einer großen Koalition mag in Ordnung sein. Bei einem Koalitionspartner wie der FDP, die sich hartnäckig weigert in der Bundesrepublik anzukommen, die nicht sieht, dass sie dem Gemeinwohl anstatt ihren Spendern gegenüber verpflichtet ist, reicht das nicht.
Machen die Grünen die NRW-Wahl zu einer Art Volksentscheid über Schwarz-Gelb auf Bundesebene?
Özdemir: Primär geht es um NRW. Aber wir werden die Wahl auch zur Abstimmung machen über die Blaupause, vor der Rüttgers und Pinkwart immer sprechen. Sie haben ihre Wunschkoalition in Berlin. Nun können sie nicht so tun, als ob in Berlin Marsmenschen regieren. Das sind ihre Brüder und Schwestern, denen sie in Berlin zur Mehrheit verholfen haben. Sie machen in Berlin in radikalisierter Form das, wofür auch Rüttgers und Pinkwart in NRW stehen. Da gibt es kein Entrinnen.
FDP-Vize Andreas Pinkwart hat Parteichef Guido Westerwelle aufgefordert, die Macht in der Partei zu verteilen. Ist dies der Anfang vom Ende Westerwelles?
Özdemir: Es läuft nicht rund bei der FDP und da wird dann irgendwann auch am Stuhl des Chefs gesägt. Westerwelle hat das selbst zu verantworten: Ein Vizekanzler und Außenminister kann nicht Teile der Gesellschaft gegeneinander ausspielen und die bittere Lebensrealität von Langzeitarbeitslosen einfach als "spätrömische Dekadenz" diffamieren.
Würden Sie Schwarz-Grün kategorisch ausschließen, falls die Koalition im Bund vor 2013 platzt?
Özdemir: Das gemeinsame Elend wird Schwarz-Gelb noch lange zusammenschweißen. Umso wichtiger ist es, zumindest im Bundesrat für andere Mehrheiten zu sorgen. Auch deshalb muss Schwarz-Gelb in NRW jetzt abgelöst werden.