Essay: Corona und die Angst Herr Tur Tur, das Virus und die Widerstandskraft der Demokratie

Düsseldorf · Die Corona-Krise trifft auf eine ohnehin schon verunsicherte Gesellschaft. Und medizinisch wie politisch stellt sich die Frage: Wie solidarisch sind wir noch, wenn wir Angst haben?

Ausdruck der Angst vor einer unbekannten Gefahr: Ein Kind in Peking, das vor dem Coronavirus mit einer Plastikplane geschützt werden soll, hält die Hand seiner Mutter.

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Eines der brillantesten literarischen Bilder für das Phänomen der Angst findet sich in einem Kinderbuch aus dem Jahr 1960. Auf Seite 125 des Klassikers „Jim Knopf und Lukas der Lokomotivführer“ von Michael Ende stößt die Lokomotive Emma plötzlich einen gellenden Pfiff aus, „der wie ein Entsetzensschrei klang, und zugleich machte sie ganz von selbst kehrt und raste wie verrückt davon“. Was Emma erblickt hatte und mit ihr Jim und Lukas: „Am Horizont stand ein Riese von so ungeheurer Größe, dass selbst das himmelhohe Gebirge ,Die Krone der Welt’ neben ihm wie ein Haufen Streichholzschachteln gewirkt hätte.“

Bei dem Riesen handelt es sich um Herrn Tur Tur und in Wahrheit ist er auch nur ein Scheinriese. Je weiter man sich von ihm entfernt, desto größer erscheint er. Geht man stattdessen auf ihn zu, schrumpft er Schritt für Schritt auf Normalmaß zusammen und verliert seinen Schrecken. Die Figur ist oft als Sinnbild für unsere Angst interpretiert worden: Wer vor ihr davonläuft, macht sie immer größer. Wer sich ihr stellt, gewinnt seine Handlungsfähigkeit zurück.

Das Coronavirus ist aufgrund seiner Winzigkeit von 160 Nanometern (nm; ein nm = ein Milliardstel Meter) für das menschliche Auge unsichtbar. Und doch hat es im Augenblick in unserer Wahrnehmung gigantische Ausmaße angenommen – durch die immer gravierenderen öffentlichen Gegenmaßnahmen, durch deren mediale Dauerbegleitung, durch die näherrückende konkrete Bedrohung.

Je mehr wir erfahren und uns damit auseinandersetzen, desto größer wird die Gewissheit, dass die Zeit der Klopapierwitze und mit spöttischer Überlegenheitsgeste vorgetragenen Vergleiche zu ungleich höheren Grippezahlen endgültig vorbei ist. Wer einmal begriffen hat, was eine exponentiell verlaufende Infektionskurve bedeuten könnte, bei dem wächst das Gefühl der Unsicherheit und der Angst  – wenn nicht um sich selbst, dann um Eltern, Großeltern oder beispielsweise den Schwager mit der chronischen Lungenkrankheit.

Der Scheinriese Herr Tur Tur – Sinnbild für den Umgang mit unserer Angst.

Foto: Esslinger Verlag

Ein Großteil der Angst speist sich dabei aus den vielen medizinischen Unbekannten, die es bei der Corona-Pandemie noch gibt. Aber diese Angst trifft auf einen gesellschaftlichen Nährboden allgemeiner Verunsicherung: Globalisierungsfolgen, Migrationsbewegungen, Populismus, Rechtsextremismus, EU-Krise – die Demokratie ringt um ihre innere Stabilität. Und manche Reaktionsmuster finden sich in der Corona-Krise wieder.

Der Föderalismus, nach den Erfahrungen des Nationalsozialismus mit Bedacht als Grundfeste des Nachkriegs-Deutschlands festgelegt, um einen zentralistischen Missbrauch des Staats zu erschweren, steht in der grundsätzlichen Kritik wie lange nicht. Das Vertrauen in die lokalen Behörden schwindet in dem Maße, in dem damit bei der Virusbekämpfung auch (vor allem in der Anfangsphase) unterschiedliche Entscheidungen getroffen wurden und zum Teil noch werden. Gerade diejenigen Bürger, die sonst gegen jeden staatlichen Eingriff in ihre individuelle Freiheit und Entscheidungskompetenz Sturm laufen, sehnen sich plötzlich in geradezu paternalistischer Ergebenheit nach der starken Hand, die alle Unbill des Lebens von ihnen fernhält.

Selbst der Rigorismus eines diktatorischen Landes wie China wird mit einem Mal bedenkenlos als Handlungsvorbild herangezogen: Sollte, müsste, könnte man nicht einfach alles ohne Diskussion verbieten, anordnen, absperren, einsperren? Dabei steht der Beweis noch aus, dass das Coronavirus sich geschlagen gibt, nur weil die chinesische Staatsführung die Zeit dafür jetzt gekommen sieht. Virologen wie der Berliner Christian Drosten, Mitentwickler des Coronavirus-Tests, gehen fest davon aus, dass mit der Wiederaufnahme des öffentlichen Lebens auch die Corona-Infektionen in China wieder ansteigen.

Auch die starke Hand des US-Präsidenten Donald Trump wird nicht ausreichen, um die USA vor den dramatischen Folgen der Pandemie zu bewahren. Sein Rezept, zu beschwichtigen, Fakten zu ignorieren und andere zu beschuldigen, ist gegen das Coronavirus wirkungslos. Mit einer viel zu niedrigen Zahl an Tests kann man die Statistik der Infektionen schönen, aber nicht deren gesundheitliche Folgen für die Bevölkerung.

Trump ist im Übrigen ein gutes aktuelles Beispiel für die Sinnhaftigkeit des Föderalismus. Der amerikanische Präsident verweigert sich bei Themen wie Klimawandel und Corona-Pandemie der Wissenschaft und Rationalität. Dass die USA bei diesen globalen Themen trotzdem nicht völlig verloren sind, verdanken sie den jeweiligen Initiativen ihrer Bundesstaaten. Je stärker die zentrale Macht ausfällt, desto abhängiger ist das ganze Land von ihr.

Manche Rezepte zur Bekämpfung der Corona-Krise stammen aber gerade deshalb aus der Klamottenkiste autokratischer Sehnsüchte, weil sie Ausdruck eines mangelnden Vertrauens in die Leistungsfähigkeit dezentraler, demokratischer und eigenverantwortlicher Strukturen sind. Dabei ist Vertrauen das verlässlichste Gegengift gegen die Angst. Es kursiert derzeit eine falsche Erwartung an völlige Eindeutigkeit. Selbst die Experten lernen im Kampf gegen das Virus täglich dazu. Unterschiedliche Äußerungen könnten dabei Ausdruck einer ernsthaften Abwägung guter Argumente für unterschiedliche Sichtweisen sein, wenn sich die selbst ernannten Experten in uns allen derweil mal geschlossen hielten. Dass damit keineswegs Handlungsunfähigkeit, Zeitverschwendung und mangelnde Bereitschaft zu sinnvoller Abstimmung verbunden sind, stellt Deutschland gerade unter Beweis. Wäre ein zentralstaatlich gelenkter Verlautbarungs-Optimismus im Krisenfall wirklich beruhigender als das transparente Ringen der Verantwortungsträger und ihrer Berater um die tagesaktuell sinnvollsten Entscheidungen?

„Für die kommende Zeit gilt als erste Lehre, dass solidarische Gesellschaften Krisen besser bestehen als unsolidarische“, schreibt der Journalist Georg Mascolo. Solidarität aber lebt auch von der Einsicht und dem Engagement jedes Einzelnen, der damit zugleich seine ängstliche Erstarrung überwinden kann. Wer nur darauf wartet, dass Vater Staat und Mutter Merkel alles richten, begibt sich in die selbst verschuldete Unmündigkeit. „Föderalismus ist nicht dafür da, dass man Verantwortung wegschiebt, sondern Förderalismus ist dafür da, dass jeder an seiner Stelle Verantwortung wahrnimmt“, hat die Bundeskanzlerin am Mittwoch gesagt – und damit ihre Kritiker abblitzen lassen, die nicht müde werden, ihre unaufgeregte, sachliche Art mit Führungsschwäche zu verwechseln.

In welche Richtung laufen wir angesichts der Ängste und Unsicherheiten – vor ihnen weg oder  beherzt auf sie zu? Diese Frage stellt sich schon länger politisch. Sie stellt sich jetzt auch medizinisch. Und damit stellt sich auch die Frage, wie solidarisch wir noch sind, wenn wir Angst haben. Die Aussichten stehen nicht schlecht, dass die Antwort positiver ausfällt als erwartet.

Wer nur auf Hamsterkäufe und gestohlene Desinfektionsmittel blickt, mag skeptisch bleiben. Doch längst kursieren in den digitalen Netzwerken schon Angebote der Nachbarschaftshilfe für Senioren und chronisch Kranke, die für Einkäufe besser nicht mehr vor die Tür gehen sollten. Zeitgleich machen Appelle Kulturschaffender die Runde, auf die Rückzahlung der Eintrittsgelder für ausgefallene Konzerte oder Aufführungen zu verzichten. Der jeweilige Besucher verzichtet dabei vielleicht auf 20 oder 30 Euro. Die Veranstalter aber könnten Einnahmeausfälle in fünfstelliger Höhe in existenzielle Schwierigkeiten bringen.

„Dem Virus ist es egal, welches Geschlecht oder welche Hautfarbe wir haben. Es fragt nicht, wo wir studiert haben oder wie teuer unser letztes Smartphone war“, schreibt der Journalist und Blogger Richard Gutjahr auf Facebook. „Ein kollektives Erlebnis wie dieses könnte sogar einen positiven Effekt haben und unsere auseinanderdriftende Gesellschaft ein Stück weit wieder zusammenbringen.“

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier ist seit Monaten als Demokratie-Verteidiger im ganzen Land unterwegs. „Wir müssen Zivilität verteidigen, Anstand und Vernunft zurückgewinnen“, hat er am 10. März in Zwickau vor kommunalen Amts- und Mandatsträgern gesagt. Der Satz ist Steinmeiers Antwort auf die Angst um die Demokratie,  er ist aber auch ein Schlüsselsatz zur Bewältigung der Corona-Bedrohung. Am Ende könnte der Beweis stehen, dass die föderale Demokratie widerstandsfähiger ist, als viele glauben.