Ein Leben im politischen Widerstand Frauenrechtlerin: „Ich habe immer die Hoffnung, dass wir lernen“
Köln · Ihre Verwandten wurden Opfer der Shoah, sie selbst erlitt Folter der Militärs. Jetzt, mit 77 Jahren, blickt Ida Schrage voller Sorge auf die Lage in Brasilien und Deutschland.
Geäußerte Mahnungen und Sorgen zu einem wachsenden Antisemitismus und rechter Gefahr in Deutschland gibt es viele. Wenn Ida Schrage ihre Eindrücke dazu formuliert, dabei nach Worten sucht und gestikuliert, bekommt das vor dem Hintergrund ihrer Lebensgeschichte zusätzliches Gewicht. Noch glaubt sie, die Gefahr sei mit anderen Ländern nicht zu vergleichen. „Aber jedes Mal, wenn ich nach Deutschland zurückgekommen bin, habe ich gemerkt: Die Situation ist schärfer geworden.“
Ida Schrage sitzt in einem Raum der Kölner Frauenberatungsstelle Agisra, 1993 von Migrantinnen für Migrantinnen gegründet. Seit 1995 hat die heute 77-Jährige selbst hier als Paar- und Familientherapeutin gearbeitet, noch heute kümmert sie sich in den neuen Räumen am Salierring ehrenamtlich um geflüchtete Frauen, ihre Traumata und das schwere psychische Gepäck, das sie mit sich tragen.
Drei Viertel der Familie haben den Holocaust nicht überlebt
Dabei hat Schrage selbst eine wundenreiche Biografie. Geboren wurde sie in Brasilien als Ida Kremer. Ihre jüdische Familie hat polnische Wurzeln, drei Viertel ihrer Verwandten haben den Holocaust nicht überlebt. Kurz nach ihrem deutschen Ehemann, dem im brasilianischen Untergrund aktiven Biologen Clemens Schrage, geriet auch die sozial engagierte junge Frau Ende der 1960er Jahre in die Gewalt der Militärdiktatur. „Bei mir waren es Elektroschocks, sexuelle Übergriffe und Beschimpfungen als Jüdin und Kommunistin“, erzählt sie von ihren Foltererfahrungen. Ihren Mann traf es noch schlimmer.
Im „Spiegel“ berichtete der Botaniker nach seiner Freilassung Ende 1969 von seinen Folterungen: Er wurde an den Beinen aufgehängt, Hände und Genitalien waren schwarz von Stromverbrennungen, er wurde gezwungen zuzusehen, wie andere Gefangene gefoltert wurden. „Inzwischen war auch meine Frau verhaftet worden, obwohl sie nie politisch tätig war. Trotzdem wurde auch sie gefoltert, damit sie gegen mich aussagte. Wenigstens wurde sie nicht vor meinen Augen gequält“, schrieb er damals in dem Nachrichtenmagazin.
Nach ihrer Freilassung versuchen die beiden einen Neustart in Deutschland. Aber es wird ein unstetes Leben mit zahlreichen Aufenthalten auch in anderen Staaten – mal Algerien, mal zweieinhalb Jahre in einem israelischen Kibbuz, dazwischen immer wieder Deutschland. 1979, zehn Jahre nach ihrer Verhaftung, wird Ida Schrage in Brasilien amnestiert. 1990 kehrt sie noch einmal für fünf Jahre in ihr Heimatland zurück. 2013 gehört sie sogar zu den sieben Frauen, die vom brasilianischen Justizministerium in São Paulo empfangen werden, um sich bei ihnen für die erlittenen Qualen unter der Militärdiktatur zu entschuldigen.
Bolsonaros Wahl erinnert sie
an die eigene Vergangenheit
Heute blickt sie mit einem durch ihre Lebens- und Berufserfahrungen geschärften Blick mit Sorge auf zwei politische Entwicklungen: in ihrem Geburtsland Brasilien und in ihrem jetzigen Heimatland Deutschland. Ihr Kontakt nach Brasilien ist nie abgerissen: Schrage hat lateinamerikanische Frauengruppen organisiert, während der Diktatur am Aufbau der europaweiten brasilianischen Informationsfront, der Frente Brasileira de Informações (FBI) mitgewirkt, hat demonstriert, „um zu zeigen, was in Brasilien läuft“. Jetzt, nach der Wahl von Jair Bolsonaro zum brasilianischen Präsidenten, kommt ihr das Land wieder vor „wie in meiner Zeit“.
In Brasilien, aber eigentlich in ganz Lateinamerika sieht sie extreme Gegensätze zwischen Reich und Arm „und dazwischen eine starke Mittelschicht, die sich sehr an den Machtstrukturen orientiert und daran, immer mehr zu haben“. Die Reichen und die Mittelschicht lebten in ihren Ghettos, in denen die Armut ausgeblendet sei. Jede Partei, jede Organisation reklamiere für sich zu wissen, „wo es langgeht – statt zusammenzuarbeiten“. Die Fähigkeit, Gemeinsamkeiten zu betonen, aber auch respekt- und vertrauensvoll Unterschiede wahrzunehmen, gehe verloren. „Und das sehe ich auch hier, das sehe ich in der ganzen Welt. Und das ist enttäuschend.“ Im Ergebnis stehe am Ende Gewalt.
Und dann zieht sie, bei aller Vorsicht, Parallelen zwischen Brasilien und Deutschland. „Ich sehe keine Basisarbeit mehr, ich mache mir Sorgen um die demokratischen Prozesse.“ Sie glaubt einen Frust am Werk, der sich keine Gedanken mehr um die Konsequenzen macht, die gesellschaftlich aus ihm folgen. „Man kann nicht sagen, dass alle Bolsonaro-Wähler nur Faschisten sind.“ Analog verhalte es sich mit den AfD-Wählern in Deutschland. Aber das Ergebnis bleibt fatal.
Wo Ida Schrage aufgewachsen ist, „waren Nazis und Deutsche synonyme Begriffe“. Ihre Eltern haben nie akzeptiert, dass sie nach Deutschland ausgewandert ist. Und auch in ihr selbst sperrt sich etwas bis heute: „Als ich einmal am Flughafen ankam und Männer in schwarzen Mänteln sah, war mein inneres Bild: Sie kommen, um mich abzuholen.“ Und selbst nach 50 Jahren hat sie immer noch Schwierigkeiten mit der Sprache, die sie sich nur mit einer Art innerer Abwehrhaltung erklären kann.
Was bedeutet ihr der Staat Israel? „Er ist meine Sicherheit.“ Der Bruder lebt längst dort. Sie selbst nimmt mit Schmerzen die Konflikte im Land wahr. „Es geht nicht entweder oder. Juden und Palästinenser haben dort schon immer zusammengelebt.“ Aber von den Bomben, die die Hamas in Richtung Israel abschieße, höre man in Deutschland nichts. „Man hört nur, wie Israel reagiert.“ Und wieder und wieder würden Juden mit der Politik des Staates Israel gleichgesetzt.
Der Traum von den zwei Inseln und dem Kontinent
Manchmal, sagt die Therapeutin, habe sie einen Traum: von zwei Inseln und einem Kontinent. Auf der einen Insel leben all die Trumps, Erdogans, Orbans, Bolsonaros und Putins dieser Welt, auf der anderen die versammelten Fundamentalisten der Religionen. „Und wir leben in Frieden auf dem Kontinent.“
Nein, wirklich resigniert sei sie nicht. Sie setzt ihre Erwartungen inzwischen weniger auf Parteien und mehr auf Bewegungen, vor allem auf die Frauenbewegung. Ihr Wunsch ist nur, dass sich die jungen Menschen noch deutlicher engagieren. „Ich weiß nicht viel, aber ich weiß, dass Solidarität und Respekt ein Prinzip unserer Welt sind.“ Stattdessen sieht sie überall Mauern in der Gesellschaft wachsen. „Aber ich habe immer die Hoffnung, dass wir lernen.“