Analyse: Abgang in zwei Minuten

Berlin (dpa). Zwei Minuten und zwei Sekunden brauchte Guido Westerwelle nur, um nach zehn Jahren eine Ära zu beenden: seine eigene an der Spitze der FDP.

Aufgeregt, mit angespannten Gesichtszügen verkündete der 49-Jährige am Sonntagabend in der Berliner Parteizentrale seinen Rückzug. Auf dem nächsten Bundesparteitag Mitte Mai in Rostock tritt er nicht wieder an.

Westerwelle begann mit den Worten: „Ich habe heute eine Entscheidung getroffen, die ich mir gründlich überlegt habe.“ Er endete mit: „Ich bin mir sicher, dass es die richtige Entscheidung ist, jetzt auch für einen Generationswechsel in der FDP mit einem Neuanfang zu sorgen.“ Dazwischen setzte er noch zwei Botschaften.

Eine war deutlich: Außenminister will er unbedingt bleiben. Die andere muss man zwischen den Zeilen lesen: Auch vom Amt des Vizekanzler wird er sich wohl trennen müssen. In seiner aufs Genaueste vorformulierten Erklärung war davon keine Rede mehr. Sollte Gesundheitsminister Philipp Rösler Parteichef werden - wofür derzeit fast alles spricht -, wird er den Prestige-Posten räumen.

Erst morgens um 05.50 Uhr war Westerwelle nach einem 17-Stunden-Flug von einer Reise nach China und nach Japan zurückgekommen. Zuhause fand er ein politisches Trümmerfeld vor. Bis zum Nachmittag gingen immer neue Katastrophennachrichten aus den Landesverbänden im Thomas-Dehler-Haus ein. Der Tenor war allen gleich: „Ein Neuanfang ist mit Westerwelle nicht mehr vorstellbar.“

Spätestens jetzt merkte der FDP-Chef, dass die Lage für ihn ausweglos war - ein Gefühl, mit dem Westerwelle nur schwer umgehen kann. „Diese Entscheidung ist in ihm gereift“, hieß es am Abend lapidar. Trotz Schlafdefizit telefonierte er fast pausenlos den ganzen Tag über mit Vertrauten. Am Nachmittag dann teilte er seinen Entschluss in einer Schaltkonferenz allen Präsidiumsmitgliedern und den Landesvorsitzenden mit.

Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) und den FDP-Ehrenvorsitzenden Hans-Dietrich Genscher hatte er zuvor schon informiert. Die Kanzlerin muss sich jetzt auf Gewichtsverlagerungen bei ihrem Koalitionspartner einstellen. Westerwelle ist seit Oppositionszeiten ein Duz-Freund. Mit der jüngeren Generation um den 38-jährigen Rösler und den 32-jährigen FDP-Generalsekretär Christian Lindner ist sie viel weniger vertraut.

Mit dem Verzicht auf eine erneute Kandidatur rettete Westerwelle vermutlich wenigestens sein Amt als Außenminister. Auch wenn die Opposition aus SPD, Grünen und Linkspartei nahezu geschlossen verlangt, dass er jetzt auch das Auswärtige Amt verlassen soll.

„Alles Gute - und gemeinsam auf viel Erfolg“, verabschiedete er sich am Sonntag von seinen Präsidiumskollegen. Bis zum Wahlparteitag Mitte Mai bleibt er formal Parteichef, auch wenn ihm die potenziellen Nachfolger längst das Ruder aus der Hand genommen haben.

Wie nun der Übergang in die Nach-Westerwelle-Ära organisiert wird und mit wem, wird wesentlich von Rösler und Lindner abhängen. Zusammen mit dem nordrhein-westfälischen Landeschef Daniel Bahr haben sie den Sturz Westerwelles letztlich kanalisiert.

Bei der Präsidiumssitzung an diesem Montag dürfte es ans Eingemachte gehen. Das engste Führungsgremium der Partei hat allerdings faktisch kaum mehr eine richtige Autorität. Mehrere Mitglieder des obersten FDP-Führungszirkels haben bereits ihren Rückzug angekündigt.

Auch der Wirtschaftsminister und FDP-Vize Rainer Brüderle gilt als massiv angeschlagen. Vom Vierer-Gremium aus Parteichef und drei Stellvertretern bliebe der 65-Jährige nach heutigem Stand als einziger übrig. Die anderen Vizes Cornelia Pieper und Andreas Pinkwart haben ebenfalls schon angekündigt, nicht mehr zu kandidieren.

Am wahrscheinlichsten gilt: Rösler wird Parteichef und bildet mit Lindner ein Tandem. Der neue Chef muss schließlich alle Parteiflügel hinter sich scharen. Zudem müssen alle Personalveränderungen bei den FDP-Leuten in der Bundesregierung in geheimer Abstimmung auch von der Fraktion gebilligt werden. Darauf setzt auch Brüderle für den Fall, dass Rösler seinen Posten als Wirtschaftsminister haben will, um das Gesundheitsressort los zu werden.

Westerwelle ließ sich auf die Nachfolge-Diskussion überhaupt nicht mehr ein. Nach zwei Minuten und zwei Sekunden vor den Kameras drehte er einfach ab. Nachfragen ließ er keine zu.