Gesundheitspolitik Arzneien ohne Zusatznutzen - "Die Vorteile des Systems überwiegen"
Gesundheitsökonom Wasem über neue Arzneien ohne Zusatznutzen.
Berlin. Etwa jedes dritte neue Medikament, das in Deutschland auf den Markt kommt, hat nach Erkenntnissen der gesetzlichen Krankenkassen keinen zusätzlichen Nutzen für die Patienten. Was steckt dahinter? Unser Berliner Korrespondent Stefan Vetter sprach darüber mit dem Gesundheitsökonom Jürgen Wasem. Der Wissenschaftler an der Uni Duisburg-Essen leitet auch die sogenannte AMNOG-Schiedsstelle. Sie tritt immer dann in Aktion, wenn sich Kassen und Pharmahersteller nicht auf einen Preis für ein neues Medikament einigen können.
Herr Wasem, Verbände der Pharmaindustrie sehen in der Kritik der Kassen nur Polemik. Wie akut ist das Problem mit neuen, aber kaum innovativen Arzneien?
Jürgen Wasem: Die Ergebnisse der Nutzenbewertung sind oft umstritten. Aber wenn ein Medikament keinen Zusatznutzen hat, kann es trotzdem für die Versorgung wichtig sein.
Wie das?
Wasem: Bei vielen Erkrankungen ist eine Erweiterung der Behandlungsmöglichkeiten durch neue Arzneimittel sinnvoll, zum Beispiel weil manche Patienten auf die bisherigen Arzneimittel nicht reagieren.
Nun sind neue Medikamente in aller Regel auch teurer als alte. Verdienen sich die Hersteller damit eine goldene Nase?
Wasem: Medikamente, die keinen Zusatznutzen gegenüber den bisherigen Arzneimitteln haben, dürfen nach einem Jahr auch nicht mehr kosten als die alten Arzneimittel, mit denen die neuen Medikamente verglichen wurden. Im ersten Jahr wiederum sind die verkauften Mengen bei den meisten Medikamenten noch nicht sehr hoch, weil sich die Ärzte in der Regel erst relativ langsam umstellen.
Andere Länder prüfen, ob bestimmte Medikamente überhaupt auf den nationalen Markt kommen sollen. Man nennt das "vierte Hürde". In Deutschland gibt es die nicht. Auch wird bei uns erst im Nachhinein ermittelt, ob ein Zusatznutzen vorhanden ist. Ein Webfehler im System?
Wasem: Bei Arzneimitteln mit Zusatznutzen führt das deutsche System aber dann auch dazu, dass die Patienten deutlich früher von den neuen Arzneimitteln profitieren als in den Ländern, in denen es eine vierte Hürde gibt. Ich persönlich finde, die Vorteile des deutschen Systems überwiegen.
Wie muss man sich die Arbeit der Schiedsstelle vorstellen, die Sie jetzt seit eineinhalb Jahren leiten?
Wasem: In mehr als 90 Prozent der Fälle einigen sich die Krankenkassen mit dem jeweiligen Pharmaunternehmen auf den Preis. Nur in weniger als jedem zehnten Fall muss daher die Schiedsstelle ran. Dies sind oft Arzneimittel, die keinen Zusatznutzen haben, und daher nicht teurer sein dürfen als die Vergleichstherapie. Bei den Arzneimitteln mit Zusatznutzen geht es darum, zu bewerten, wieviel wir bereit sind, dafür auszugeben. Dies ist schwierig, weil eine gesellschaftliche Debatte über die Zahlungsbereitschaft für medizinischen Fortschritt bei uns erst in den Anfängen steckt.
Und wie sieht in aller Regel ein Kompromiss aus?
Wasem: Die Schiedsstelle bemüht sich zunächst, eine Lösung zu finden, die für beide Seiten akzeptabel ist. Oft gelingt das aber nicht. Dann muss die Schiedsstelle eine Mehrheitsentscheidung herbeiführen. Da beide Seiten, also Krankenkassen und Pharmaunternehmen, in der Schiedsstelle je zwei Mitglieder haben, kommt es dann auf die Stimmen der drei Unparteiischen an. Die Entscheidung ist dann für das Pharmaunternehmen wie für die Krankenkassen verbindlich.