Atomkraftwerke: Zwischen Sorge und Kalkül
Kanzlerin sieht Handlungszwang und nimmt alte Meiler vom Netz.
Berlin. Mit ernster Miene betritt Angela Merkel den Saal im Kanzleramt. Ihr steht die Unsicherheit über die Nachrichten aus dem japanischen Atomkraftwerk Fukushima ins Gesicht geschrieben. Sie zieht gemeinsam mit den Ministerpräsidenten der Länder mit Atommeilern die Reißleine. Die Katastrophe in Japan hat den bisherigen Kurs der längeren Laufzeiten zunichte gemacht — zumindest vorerst.
„Wir können nicht einfach zur Tagesordnung übergehen“, sagt Merkel. Sicherheit habe Vorrang. Sieben alte gehen vorerst vom Netz. Und das AKW Krümmel bleibt abgeschaltet. Umweltminister Norbert Röttgen (CDU) sagt: „Die Kernfrage ist: Welche Risiken sind wir bereit, in Zukunft noch hinzunehmen?“ Besonders die Frage eines Flugzeugs, das auf einen Meiler stürzt, müsse neu bewertet werden.
Wie ernst ist es der Koalition — markiert der Tag fünf der Atomkrise auch den Beginn eines Paradigmenwechsels bei Union und FDP in Sachen Atom? Die Koalition steht unter Riesendruck. In eineinhalb Wochen wählt Baden-Württemberg — CDU-Stammland — einen neuen Landtag.
Ministerpräsident Stefan Mappus (CDU) muss um seinen Posten bangen. Noch für den Tag vor der Wahl, den 26. März, mobilisiert die Anti-AKW-Bewegung für Großkundgebungen in mehreren Städten. „Unsere Kraftwerke sind sicher“, beteuerte Mappus noch vor wenigen Tagen. „Ich mache keine Kehrtwende“, sagt er jetzt.
Kanzlerin Merkel weist den Vorwurf der Wahlkampftaktik zurück. Sie verweist auf die „ausgesprochen ernste Lage“. Gemeinsam mit Frankreich, das derzeit den G20-Vorsitz hat, will sie international über ein Umdenken sprechen.
Schwarz-Gelb will jeden Eindruck eines radikalen Schwenks vermeiden — und dennoch angemessen auf einen möglichen Super-Gau in Japan und die Folgen reagieren. Die Koalition spricht von einer Zäsur. Es geht ihr darum, das Heft des Handelns in die Hand zu nehmen: Merkel und Röttgen ordnen das Abschalten älterer Meiler von ganz oben an.
Die Opposition stellt die Regierung unter den Generalverdacht, zu tricksen. Man sei zu einem gemeinsamen Vorgehen zum endgültigen Atom-Ausstieg bereit, sagt SPD-Chef Sigmar Gabriel. „Mit diesem Tricksen und Täuschen muss es vorbei sein.“ Grünen-Fraktionschefin Renate Künast wettert: Wahlkampf pur und Bankrotterklärung. „Jetzt haben sie nicht einmal den Mut, ihre Ankündigungen der letzten zwei Tage zu exekutieren.“
Wie es mit dem Großteil der alten Meiler Mitte Juni nach Ende der Überprüfungen wirklich weitergeht, ist offen. Spätestens dann müssen sich Merkel und ihre Koalition endgültig entscheiden.