Balkanländer geben Flüchtlingspakt mit Türkei keine Zeit mehr
Brüssel/Berlin/Belgrad (dpa) - Deutschland wirbt für Geduld, doch auf dem Balkan werden Fakten geschaffen: Kanzlerin Merkel (CDU) hat trotz des Drucks durch die Landtagswahlen an diesem Sonntag mehr Zeit für einen europäischen Flüchtlingspakt mit der Türkei erbeten.
„Manchmal könnte es schneller gehen. Aber ich glaube, insgesamt bewegt sich die Sache in die richtige Richtung“, sagte sie am Dienstag nach einem EU-Gipfel mit der Türkei im Südwestrundfunk. Slowenien und Serbien wollen sich damit offenkundig nicht zufrieden geben: Noch am Abend kündigten beide Länder überraschend an, die Balkanroute für Flüchtlinge solle abrupt geschlossen und die bisherige Absprachepraxis der Anrainerländer damit beendet werden.
Merkel sagte im SWR, für eine endgültige Vereinbarung bis zum nächsten Gipfel am 17. und 18. März gebe es noch viel Arbeit zu erledigen. Kernpunkte sind neue Vorschläge zur Rücknahme von Flüchtlingen, die Türkei will zugleich mehr Milliardenhilfe der EU. EU-Gipfelchef Donald Tusk sagte: „Ich habe keinen Zweifel, dass wir den endgültigen Erfolg erzielen werden.“ Die „Tage der ungeregelten Migration“ in die EU seien vorüber.
Über die Balkanroute waren im vergangenen Jahr mehr als eine Million Menschen nach Westeuropa gelangt. Sloweniens Regierung kündigte nun an, künftig wieder streng die Schengen-Regeln anzuwenden und nur noch Menschen mit gültigen Pässen und Visa einreisen zu lassen. Diese Regelung gelte ab Mitternacht.
Serbien als weiter südlicher Anrainer reagierte in gleicher Weise. Es werde die neuen Regelungen ebenso an seiner Grenze zu Mazedonien und Bulgarien anwenden, teilte das serbische Innenministerium mit. „Damit wird die Balkanroute praktisch geschlossen“, zitierten serbische Medien eine entsprechende Erklärung des Ministeriums. Auch Kroatien, das zwischen Slowenien und Serbien liegt, werde in dieser Weise reagieren.
Slowenien werde in Zukunft pro Monat 40 bis 50 Menschen Asyl gewähren, zitierte das nationale slowenische Radio Regierungschef Miro Cerar. Früher waren die Menschen auf der Balkanroute von einem an den nächsten Staat weitergereicht worden, weil sie in der Regel nach Österreich und vor allem nach Deutschland wollten.
Bei dem eintägigen Sondergipfel in Brüssel hatte der türkische Regierungschef Ahmet Davutoglu ein weitreichendes Paket vorgelegt, das viele EU-Chefs überraschte. Das Angebot sieht unter anderem vor, dass die EU alle Flüchtlinge, die unerlaubt aus der Türkei auf die griechischen Inseln übersetzen, wieder in die Türkei zurückschicken kann. Zugleich soll aber für jeden Syrer, der zurück in die Türkei gebracht wird, einer legal in die EU kommen können. Unklar blieb, welche EU-Staaten sie aufnehmen könnten. Zudem fordert Ankara eine Verdoppelung der EU-Hilfszusagen für in der Türkei lebende Flüchtlinge von drei Milliarden auf sechs Milliarden Euro. Dazu gab es kein klares Signal des EU-Gipfels.
SPD-Chef Sigmar Gabriel bezeichnete diesen Zwischenstand als wichtigen Schritt nach vorn. Die angestrebten Vereinbarungen seien der beste Weg, „um den Menschenhändlern und Schleppern das Handwerk zu legen“. Der CSU-Vorsitzende Horst Seehofer äußerte sich kritisch. Leistung und Gegenleistung müssten übereinstimmen, aber bei der von der Türkei geforderten vollen Visafreiheit für Reisen in die EU habe man „sehr große Bedenken“.
Baden-Württembergs Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Grüne) setzt auf eine Schwächung der rechtspopulistischen AfD durch eine europäische Lösung in der Flüchtlingskrise. Er hoffe, „dass die Stimmung in einer tief verunsicherten Bevölkerung einfach besser wird.“ Bei den Wahlen in Rheinland-Pfalz, Baden-Württemberg und Sachsen-Anhalt am Sonntag steht die AfD laut Umfragen vor dem Einzug in die Landesparlamente. Linke-Chef Bernd Riexinger warf der EU vor, Gewalt gegen Demonstranten und Journalisten in der Türkei zu ignorieren. Wegen ihrer Uneinigkeit sei sie nun erpressbar.
Griechenlands Ministerpräsident Alexis Tsipras warnte vor Euphorie, da noch zahlreiche Schritte nötig seien. Er verwies auf die „tragischen Bilder“ im Lager Idomeni an der griechisch-mazedonischen Grenze, wo Tausende Flüchtlinge unter miserablen Bedingungen festsitzen, während täglich Hunderte weitere von den griechischen Inseln aufs Festland nachkommen. Später sagte Tsipras bei einem Treffen mit Davutoglu in Izmir, Griechenland und die Türkei würden die Zusammenarbeit ihrer Küstenwachen zur Bekämpfung des Menschenschmuggels ausbauen. Davutoglu sagte, das Mittelmeer dürfe nicht „ein Meer der Trauer und des Dramas“ werden.
Österreich will indes an seiner restriktiven Flüchtlingspolitik festhalten. Kanzler Werner Faymann (SPÖ) legte Deutschland nahe, ebenfalls eine Asylbewerber-Obergrenze auszurufen. Solange der „deutsche Nachbar keine Zahl nennt, die er sich vorstellen kann, die er tatsächlich schaffen kann, (...) bleibt das ein Hin- und Hergeschiebe von Problemen zwischen nationalen Grenzen und Einzellösungen“. Analog zu der von Österreich festgelegten Quote könnte ein Limit für Deutschland bei 400 000 Asylbewerbern liegen, sagte Faymann in Wien. Merkel lehnt eine nationale Obergrenze, die auch die CSU verlangt, strikt ab.