Interview Beförderung für Sex? Vergewaltigung? Sexismus-Debatte erreicht EU-Parlament

In Brüssel sind einige besonders drastische Übergriffe bekannt geworden. Das EU-Parlament greift das Thema auf. Die Grüne Europa-Abgeordnete Terry Reintke über die Hintergründe der Debatte.

Foto: Grüne

Düsseldorf. Ein zweifelhaftes Kompliment hier, eine unerwünschte Tätschelei dort. Nachdem das gewaltige Ausmaß institutionalisierter sexueller Belästigung in Hollywood durch den US-Filmproduzenten Harvey Weinstein bekannt wurde und weltweit Frauen unter dem Hashtag „Me too“ ihre individuellen Erfahrungen mit Sexismus öffentlich machten, hat die Debatte nun auch die Politik erreicht. Am Mittwoch beschäftigte sich das EU-Parlament in seiner Plenarsitzung mit dem Thema. Auch die aus Gelsenkirchen stammende Europa-Abgeordnete Terry Reintke (Grüne) kam dort zu Wort. Im Interview mit unserer Zeitung schildert sie ihre Eindrücke aus der Diskussion.

Frau Reintke, wie haben Sie die Plenumsdebatte über sexuelle Belästigung heute im EU-Parlament erlebt?

Terry Reintke: Ich habe dort selbst eine Rede gehalten und muss sagen, dass es unter den Abgeordneten ein großes Bewusstsein für dieses Problem gibt. Den meisten ist klar, dass Belästigung nicht nur im Parlament stattfindet, sondern in unserer Gesellschaft ein weit verbreitetes Phänomen ist. Bei vielen sitzt der Schock tief, weil in Brüssel einige besonders drastische Fälle von Übergriffen bekanntgeworden sind. Da geht es bei weitem nicht nur um anzügliche Bemerkungen, sondern um konkrete Straftaten — in einem Fall steht sogar eine Vergewaltigung im Raum. Als Grüne haben wir deshalb eine Resolution auf den Weg gebracht, was sehr positiv aufgenommen wurde.

Welche Vorfälle sind Ihnen bekannt?

Reintke: Es wabern nun viele Gerüchte durchs EU-Parlament — beispielsweise soll ein Abgeordneter vor einer Mitarbeiterin masturbiert haben. In einem anderen Fall soll ein Parlamentarier eine Textnachricht an eine Angestellte verschickt haben, in der er ihr vorschlägt, sexuelle Interaktion mit ihm mit einer Beförderung zu „belohnen“. Allerdings wollen die betroffenen Frauen sich nicht mit Klarnamen äußern und anonym bleiben, weil sie mögliche negative Konsequenzen wie etwa einen Jobverlust fürchten.

Können Sie dieses Schweigen nachvollziehehen?

Reintke: Ich möchte Opfer von sexueller Belästigung immer ermutigen, erlittene Grenzüberschreitungen klar zu benennen. Andererseits muss jede Frau diese Entscheidung selbst treffen. Ich könnte mir vorstellen, dass der mediale Druck sogar viele eher abschreckt und nicht förderlich dafür ist, dass Betroffene aus der Defensive kommen.

Welche Erscheinungsformen von Sexismus in der Politik kennen Sie ganz persönlich?

Reintke: Ich habe einmal erlebt, dass bei einem Treffen zwischen EU- und nationalen Abgeordneten ein Herr seinen Blick über die Reihen im Sozialausschuss schweifen ließ und meinte, es sei ja schön, dass dort so viele Frauen säßen. Dann habe man „wenigstens etwas zum Anschauen“. Früher habe ich solche Erlebnisse schon mal weggelächelt, heute benenne ich ganz klar, wenn jemand eine Grenze überschreitet.

Von manchen Männern wird in der Diskussion das Argument bemüht, dass Frauen einen „harmlosen Flirtversuch“ schnell als Belästigung empfinden würden.

Reintke: Richtig, dann wird häufig behauptet, dass eine taktlose Bemerkung ganz anders gemeint war, als sie bei der Empfängerin angekommen ist. Reagieren Frauen auf solche verbalen Übergriffe empfindlich, werden sie gerne als „frigide Zicke“ oder Ähnliches abgestempelt. Diese Sichtweise setzt voraus, dass allein der Absender die Deutungshoheit über eine Äußerung besitzt und nicht die Empfängerin. Wir Frauen müssen unseren Teil der Definitionsmacht zurückbekommen.

Worum geht es Männern, die Frauen auf diese Weise zu Objekten degradieren?

Reintke: Es mag da unterschiedliche Motivationen geben, aber ich gehe davon aus, dass es sich in den meisten Fällen um eine ganz bewusste Machtdemonstration handelt. In der Politik gibt es diese Formen von Belästigung auf den unterschiedlichsten Ebenen — nicht nur unter politischen Gegnern, sondern auch unter Parteikollegen. Gerade zwischen Abgeordneten und ihren Mitarbeiterinnen besteht ein direktes Abhängigkeitsverhältnis. Das kann verheerende Auswirkungen haben, wenn der Abgeordnete seine Macht missbraucht.

Wie kann man Sexismus in der Politik und in der Gesellschaft effektiv bekämpfen?

Reintke: Unsere vordringliche Aufgabe ist jetzt, ein Klima der Offenheit zu schaffen, damit mehr Frauen das Gefühl haben, über ihre Erfahrungen reden zu können. Es ist traurig, dass wir im Jahr 2017 diese Diskussion noch immer führen müssen. Man muss aber realistisch genug sein, um sich eines einzugestehen: Vor uns liegt noch ein weiter Weg.