Interview EU-Abgeordnete Terry Reintke: „Nationalismus ist Krieg“
Terry Reintke sitzt für die Grünen im Europaparlament. Wir sprachen mit ihr über die EU, den Brexit und Martin Schulz.
Frau Reintke, wie geht es der Europäischen Union?
Reintke: Es gibt Zersetzungstendenzen. Nicht nur in Osteuropa. Auch in Westeuropa. Wir müssen uns dem als Europäerinnen und Europäer entgegenstellen und Schluss machen mit der Vorstellung, dass es eine Wahl gibt zwischen Binnenmarkt und wirtschaftlichen Vorteilen einerseits und Rechtsstaatlichkeit, Demokratie und Menschenrechten andererseits. Das kann nur zusammen funktionieren. Was Orban oder Kaczinsky oder rechtspopulistische Kräfte in Europa anbieten, wird nicht funktionieren. Wir müssen im Zusammenhang mit Europa wieder eine Wertedebatte führen.
Da wird Ihnen vermutlich die Mehrheit recht geben. Aber die Realität läuft dem in Windeseile entgegen.
Reintke: Genau. Weil es Probleme gibt, die lange verschlafen wurden. Es gibt wachsende Ungleichheit in der EU, auch innerhalb aller Mitgliedsstaaten. Dann so zu tun, als sei alles eitel Sonnenschein, geht nicht. Das haben wir auch in der Brexit-Abstimmung gesehen. Wenn ganze Regionen abgehängt werden, wenden die sich in einer ganz großen Mehrheit ab.
Und was kann die EU dafür?
Reintke: Es ist natürlich nicht so, dass die EU schuld dran ist, dass beispielsweise so viele Menschen im Norden Englands ihre Arbeit verloren haben. Gleichzeitig bin ich aber der festen Überzeugung, dass die Europäische Union einen zentralen Beitrag dazu leisten kann, Antworten auf diese Herausforderungen zu geben. Das ist uns bisher nicht im nötigen Maße gelungen. Da muss sozialpolitisch und in der Steuerpolitik was gemacht werden. Und wir brauchen endlich eine kontroverse Debatte zwischen den demokratischen Kräften auf europäischer Ebene dazu, wohin die Reise gehen soll.
Was wir stattdessen erleben, ist wachsender Nationalismus . . .
Reintke: Nationalismus ist Krieg.
Sind Sie von der Reformfähigkeit der EU überzeugt?
Reintke: Ja.
Braucht es dafür nicht andere Regeln? Wann haben wir denn endlich die Mehrheitsentscheidung in der EU?
Reintke: Die haben wir an vielen Stellen im Rat schon. Es gibt aber immer wieder Momente, in denen ich denke, wir hätten einen Schritt weitergehen können. Es wäre visionär gewesen, die wegfallenden Plätze der Briten im Parlament von allen Europäern neu wählen zu lassen. Das haben die deutschen Konservativen im Parlament verhindert. Es geht doch darum, eine europäische Demokratie aufzubauen und nicht nur ein Summenspiel aus allen Mitgliedsstaaten.
Die Realität scheint aber vielmehr zu sein, dass jedem Mitgliedsstaat die Hose näher ist als der Rock.
Reintke: Das ist in der Tat so. Ich glaube aber, dass man mit dem Rumgewurschtele der vergangenen zehn Jahre nirgendwo hinkommt. Wir müssen auf die hetzerischen Kampagnen beispielsweise vor der Brexit-Entscheidung faktenbasiert, aber genauso emotional reagieren. Wir müssen sagen: Dieses nationalistische Denken bedeutet am Ende wieder Krieg in Europa. Punkt.
Sie sind Mitglied im Parlamentsausschuss für regionale Entwicklung. Wie definiert das EU-Parlament eigentlich Region?
Reintke: Die Region, die aus Brüssel am stärksten wahrgenommen werden, sind die Bundesländer, weil das die 16 Regionen der Bundesrepublik Deutschland sind. Entsprechend werden das Münsterland, das Ruhrgebiet und das Bergische Land in einen Topf geworfen.
Das ist aber ein Fehler.
Reintke: Genau. Da hat man Nordrhein-Westfalen nicht richtig verstanden.
Wie detailliert kann der Ausschuss diese Kleinteiligkeit denn beobachten?
Reintke: Wir bemühen uns darum, uns ein Bild davon zu machen, was sozusagen in den „Unterregionen“ los ist. Das müssen wir auch tun.
Und was macht der Ausschuss dann?
Reintke: Technisch ausgedrückt: Wir verabschieden die Verordnungen für die Förderkriterien. Praktisch bedeutet das, wir legen fest, nach welchen Kriterien EU-Gelder an wen und für was vergeben werden. Das ist für Regionen, die soziale und wirtschaftliche Herausforderungen vor sich haben, eine sehr entscheidende Sache. Das ist auch einer der Gründe, warum ich in diesem Ausschuss sitze. Für das Ruhrgebiet, aber auch für das Bergische Land spielt es eine wichtige Rolle, ob Fördermitteln aus der EU kommen oder nicht. Es gibt Investitionen, die allein mit Bundes- und Landesmitteln nicht getätigt werden könnten.
Wie wird sich in diesem Zusammenhang der Brexit auswirken?
Reintke: Eine Idee ist zum Beispiel, den fehlenden Beitrag Großbritanniens dadurch auszugleichen, dass man den sogenannten reichen Regionen das Geld streichen kann.
Das klingt gerecht.
Reinkte: Ich halte das für unfair und vor allem wenig nachhaltig.
Warum?
Reintke: Demnach wäre NRW eine reiche Region. Verglichen mit Portugal stimmt das sicher auch, verglichen mit Baden-Württemberg aber nicht. Das ist eine unfaire Sicht auf die Regionen, weil da wirklich alle in einen Topf geworfen werden. Aber selbst in reicheren Regionen sind Fördermittel wichtig, um regionale Disparitäten auszugleichen und um den Leuten mitzuteilen, was die Europäische Union mit Entwicklungen vor Ort zu tun hat. In Gelsenkirchen beispielsweise sind viele Projekte nur durch die Hilfe der Europäischen Union umgesetzt worden. Solche Dinge verankern Europa vor Ort. Deshalb wäre es eine Katastrophe, wenn in Anführungsstrichen reichere Regionen diese Mittel nicht mehr bekämen.
Aber der durch den Brexit fehlende Beitrag muss doch irgendwie kompensiert werden.
Reintke: Wenn Großbritannien wirklich gehen sollte, müssen reichere Länder wie Deutschland, die Niederlande, die skandinavischen Länder oder auch Frankreich mehr Geld für den EU-Haushalt zur Verfügung stellen, damit man die Mittel nach wie vor so zur Verfügung stellen kann, dass alle europäischen Regionen davon profitieren können.
Wie sehr hat Martin Schulz dem Ansehen des EU-Parlamentes geschadet, dem er lange vorstand?
Reintke: Was Martin Schulz in den vergangenen Monaten gemacht hat, schadet zunächst vor allem der SPD. Und dann schadet es allen Politikerinnen und Politikern. Weil es den Eindruck erweckt, dass doch alles nur Postengeschachere ist. Es bestätigt Vorurteile, die sehr häufig unbegründet sind.
Dem Europaparlament wird nachgesagt, dass dort diejenigen hingeschickt werden, die in der nationalen Politik unbrauchbar sind.
Reintke: Es gibt im EU-Parlament sehr viele sehr gute Politiker und Politikerinnen. Und auf Martin Schulz trifft der Vorwurf erst recht nicht zu, weil er seine Karriere im EU-Parlament begonnen und dem Parlament sehr genutzt hat. Wie er sich aber in den vergangenen Wochen verhalten hat, schadet nicht nur ihm, sondern auch anderen. Dass es dem EU-Parlament geschadet hat, glaube ich eher nicht.
Sie sind 30 Jahre alt, vom Time Magazin zur Person of the Year ernannt worden. Sie sind eloquent, dynamisch und leidenschaftlich für Europa: Braucht Europa mehr Politikerinnen wie Terry Reintke?
Reintke: Ich glaube, es braucht vor allem Menschen, die Dinge anders machen, neue Ideen vorantreiben und nicht mehr in den alten, formalen Strukturen agieren wollen.
Wie meinen Sie das?
Reintke: Ich bin in Deutschland gewählt worden, aber ich verstehe mich als europäische Abgeordnete. Deswegen interessiert mich auch, was beispielsweise in Spanien passiert und in Griechenland und Polen. Ich bin Berufspolitikerin und trotzdem auch Aktivistin. Ich gehe auf die Straße, spreche mit Leuten, nicht nur in Deutschland. Das ist wichtig, damit das Bild von den Politikern, die sich nur die Taschen vollmachen, korrigiert wird. Ich kämpfe im Europäischen Parlament darum, dass die Menschen sich Europa nicht mehr nehmen lassen. Das ist in Großbritannien zu spät geschehen.
Wie lange hat Europa noch Zeit, seine Krise zu überwinden?
Reintke: Das ist schwer zu sagen. Bei Großbritannien habe ich noch Resthoffnung. Zurzeit wächst dort eine Bewegung, die ein zweites Referendum beziehungsweise über den Austrittsvertrag abstimmen will. Das wäre eine Chance, den Austritt abzuwenden.
Und die Europäische Union?
Reintke: Es kommt darauf an, ob es Bevölkerungsmehrheiten gibt, die für die Europäische Union einstehen. Wir können die klügsten Köpfe ins Parlament schicken, wir können die beste Kommission haben: Wenn wir niemanden haben, der von der Straße Druck macht, der in Familien, in Verbänden, am Stammtisch immer wieder sagt, dass dieses europäische Projekt weitergebaut werden muss, dann werden die Herausforderungen, vor denen wir stehen, nicht zu meistern sein. Es kommt darauf an, dass sich die Bürgerinnen und Bürger in Europa hinter dieses Projekt stellen. Andernfalls kommen sehr, sehr schwierige 15 bis 20 Jahre auf uns zu.