Arbeitszeitforschung "Der menschliche Rhythmus ist nun mal unflexibel"
Berlin. Arbeitszeitforscher Nachreiner hält die Forderungen der Arbeitgeber in jeder Hinsicht für schädlich Ein neues Arbeitszeitgesetz mit einer Wochenhöchstarbeitszeit statt des Acht-Stunden-Tages und fordern die Arbeitgeber.
Sie argumentieren mit der modernen Industrie 4.0. Der renommierte Oldenburger Arbeitszeitforscher Friedhelm Nachreiner warnt eindringlich vor den Folgen. Die Wirtschaft schade sich so letztlich selbst. Unser Berliner Korrespondent Werner Kolhoff sprach mit ihm.
Braucht die künftige Industrie 4.0 wirklich flexiblere Arbeitszeiten?
Nachreiner.: Dahinter steckt die alte Forderung, dass die Menschen sich der Technologie anpassen sollen und nicht die Technologie dem Menschen. Man wird künftig vielleicht etwas andere Arbeitszeiten brauchen als heute, dafür ist eine komplette Änderung des Arbeitszeitgesetzes aber nicht nötig.
Ist das deutsche Arbeitsgesetz im europäischen Vergleich besonders starr?
Nachreiner: Es setzt die europäische Arbeitszeit-Richtlinie um, bewegt sich also im normalen europäischen Rahmen. Die Ausnahmen, die es enthält, machen schon jetzt fast alles möglich. Sie unterliegen allerdings hier der Mitbestimmungspflicht.
Auf anderen Kontinenten gibt es keine Sonntage oder nicht unsere Feiertage. Ist es nicht verständlich, dass die Arbeitgeber die Computerarbeit auch dann weiterlaufen lassen wollen?
Nachreiner: In Deutschland dient der Sonntag der Erholung und nicht der Produktion. Wir haben als Menschen nicht nur bestimmte biologische Rhythmen, wir haben auch soziale Rhythmen. Wenn man sich gegen sie stellt, braucht man überproportional lange Erholungszeiten, um das zu kompensieren. Der Freizeit- und Erholungswert in der Woche ist zum Beispiel nicht so hoch wie an Sonntagen, weil zur Erholung auch die Begegnung mit der Familie oder Freunden gehört. Wenn man Wochenend- oder Abendarbeit vernünftig ausgleichen will, kommt man auf enorme Stundenzahlen.
Steigt das Unfallrisiko mit längeren Arbeitszeiten?
Nachreiner: Nach unseren Untersuchungen steigt das Unfallrisiko bei längeren Arbeitszeiten stark an, ebenso wie bei hochflexiblen Arbeitszeiten, hier zum Beispiel um rund 80 Prozent, vergleichbar wie bei schwerer körperlicher Arbeit. Selbst wenn der Arbeitnehmer sie freiwillig gewählt hat, ist der Anstieg nur geringfügig schwächer.
Nun sind Computer nicht so gefährlich wie Gerüste oder Bagger.
Nachreiner: Man kann aus Konzentrationsmangel Dateien versenken oder Fehler programmieren, man kann also erhebliche Schäden anrichten. Es sind nur andere Fehler als bei der körperlichen Arbeit. Das Grundproblem ist aber dasselbe. Der menschliche Grundrhythmus ist nun einmal ziemlich unflexibel. Wenn man trotzdem mehr Flexibilität will, muss man die Störungen des Rhythmus ausreichend kompensieren. Am Besten vorbeugend, aber wenigstens sofort danach. Erholung lässt sich nicht verschieben.
Sind Arbeitszeitkonten dafür eine Lösung?
Nachreiner: Nein, sie sind, so wie sie praktiziert werden, eigentlich ein Betrug. Denn die Mehrarbeit oder Arbeit zu ungünstigen Zeiten wird nur eins zu eins, Stunde gegen Stunde, ausgeglichen. Unter dem Aspekt vergleichbarer Beanspruchung müssten es aber mehr Stunden sein. Gleiches gilt für Langzeitkonten. Man kann sich als junger Mensch zwar auspowern, doch dann ist man verschlissen. Dann hilft das Arbeitszeitkonto auch nicht mehr.
Glauben Sie, dass Sie und andere Arbeitszeitforscher die Entwicklung aufhalten können?
Nachreiner: Wahrscheinlich nicht, denn wir erleben eine Erosion des Arbeitsschutzes. Und so lange man bei den jungen Arbeitnehmern die negativen Konsequenzen noch nicht direkt sieht, wird man davon nicht ablassen. Aber das ist eine Milchmädchenrechnung. Es kann nicht gut gehen, wenn die Erholung nicht nur um Tage, sondern um Jahre verschoben wird. Langfristig wird die Gesellschaft nichts davon haben.