28 Jahre, 2 Monate und 26 Tage Die Berliner Mauer ist nun genauso lange weg, wie sie da war
Berlin (dpa) - Am Checkpoint Charlie in Berlin wird die Geschichte immer teurer. Für ein Foto mit einem falschen US-Soldaten und Flagge will ein Darsteller mittlerweile drei Euro pro Person.
Den früheren Grenzkontrollpunkt an der Friedrichstraße passierten einst Diplomaten, heute stehen dort Laiendarsteller vor einem nachgebauten Haus. Drumherum: Touristen und was von der Mauer übrig blieb.
Heute ist die Mauer nun genauso lange weg wie sie da war. Zwei gleich lange Abschnitte deutscher Geschichte: 28 Jahre, 2 Monate und 26 Tage. Am 13. August 1961 erst mit Stacheldraht und später mit immer mehr Beton hochgezogen, am 9. November 1989 friedlich überwunden. Viele Menschen können sich noch genau an die Zeit der Teilung erinnern. Sie gehörte zu ihrem Leben.
Hans-Joachim Lietsche (57) wartet auf seine Besuchergruppe. Er will Schülern erklären, wie die DDR-Staatssicherheit Menschen wie ihn einsperrte. Weil sie nicht auf Linie waren. „30 Jahre hab’ ich meine Haft verdrängt“, sagt der gelernte Bau- und Kunstglaser. Wo Lietsche jetzt steht, war früher die Untersuchungshaftanstalt der Stasi. Heute ist die Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen der einzige Ort, an dem der Frührentner über damals reden kann, über die Zelle ohne Fenster, die Isolation und Angst. Paragraf 220, Herabwürdigung staatlicher Organe, sei sein Vergehen gewesen, neun Monate Haft. Er habe eine Staatsanwältin als „blöde Kuh“ beschimpft. Gesucht habe er die Frau nie: „Ich habe keinen Sinn für Rache.“
Von dem Betonwall, der einst das Leben der Berliner trennte, stehen heute noch Reste. Für die junge Generation ist Stadtführer Markus Müller-Tenckhoff nach eigenen Worten fast ein Geschichtslehrer. „Wenn ich junge Menschen durch Berlin führe, stellen die ganz andere Fragen. Daran erkennt man, dass die Mauer für die Geschichte ist.“ Die erste Frage: Wie lange hat es gedauert, die Grenze zu bauen?
„Die meisten denken, es waren die Russen und nicht die Deutschen“, sagt Müller-Tenckhoff. „Man muss dann weit ausholen und die grundsätzliche Nachkriegsgeschichte mit den Alliierten erläutern.“ SED-Chef Walter Ulbricht ging als „Mauerbauer“ in die Geschichte ein. Noch kurz vorher hatte er die Weltöffentlichkeit getäuscht: „Niemand hat die Absicht, eine Mauer zu errichten.“
„Das Zeiterleben ist individuell sehr unterschiedlich“, sagt der Psychologe Klaus Seifried. Er hat 26 Jahre als Schulpsychologe gearbeitet und gehört dem Vorstand des Berufsverbands Deutscher Psychologen an. „Junge Leute können sich das Leben vor 30 oder 40 Jahren kaum vorstellen.“ Wenn er Besuch habe und mit jungen Menschen zur Mauer-Gedenkstätte Bernauer Straße gehe, sei das für sie ähnlich fern wie der Zweite Weltkrieg oder der Holocaust. Das sei dann so, als wenn seine Eltern von der Zeit vor oder während des Krieges erzählt hätten. „Die sinnliche Erfahrung fehlt.“
Wenn einem die Zeit mit Mauer länger vorkommt als der Abschnitt seit dem Mauerfall, kann das laut Seifried auch am subjektiven Empfinden und dem heutigen Tempo liegen. Internet, Smartphones, Globalisierung, Mobilität - all das hat den Alltag beschleunigt. „Wenn wir uns erinnern, nehmen wir die Zeit dann als kürzer wahr, wenn viel passiert, wenn sich viel verändert“, sagt Seifried.
Manche Menschen in Ostdeutschland fühlen sich noch heute benachteiligt. Obwohl der Lebensstandard seit 1989 gestiegen, die Arbeitslosigkeit wieder gesunken ist und Kommunen herausgeputzt wurden. Sie verweisen auf niedrigere Renten, sterbende Dörfer, abgewanderte Fachkräfte. Bei der Bundestagswahl im vergangenen Herbst wurde die AfD im Osten zweitstärkste politische Kraft.
Und nun? Die Teilung wird langsam zur Geschichte. „Menschen neigen dazu, dass sie positive Dinge erinnern und negative vergessen oder relativieren. Bestimmte Dinge werden verklärt - sowohl in Ost als auch West“, sagt Psychologe Seifried. „Ich glaube, dass Bürger, die die DDR aufgebaut haben, eher die positiven Dinge erinnern und deswegen auch ein Stück enttäuscht sind von der sozialen Härte unseres Systems.
Umfragen zeigten, dass junge Menschen wenig über die Geschichte von Demokratie und Diktatur nach 1945 wüssten. Hier sei Schule ein wichtiger Faktor. Aber ob ein bis zwei Wochenstunden ausreichen, sei fraglich. Angesichts aktueller Gefährdungen der Demokratie in Deutschland und Europa müsse die politische Bildung gestärkt werden, fordert Anna Kaminsky, Geschäftsführerin der Bundesstiftung für die Aufarbeitung der SED-Diktatur. Ähnliches treibt auch Lietsche an. „Es ist mir ein Anliegen, dass sowas nicht nochmal passiert“, sagt er mit Blick auf die Stasi. „Davor habe ich Angst. Diktatur geht so schnell - die schweigende Masse macht sie möglich.“