Gefährliche Pillen für Frauen, Demente und Trinker
Berlin (dpa) - Hunderttausende Alkoholiker, Demenzkranke und gesunde junge Frauen bekommen laut einer neuen Studie massenhaft riskante Pillen verschrieben. In Heimen würden viele Altersverwirrte wegen Personalnot ruhiggestellt, kritisierte Studienautor Gerd Glaeske am Mittwoch in Berlin.
Rund die Hälfte der 20 gebräuchlichsten Antibabypillen enthalten nach Angaben des Bremer Forschers neuartige Hormone mit größerem Risiko eines Gefäßverschlusses. Hunderttausenden Trinkern verschrieben die Ärzte starke Schlafmittel, die zusätzlich süchtig machen und die Menschen einlullen. Ärzte und Pharmafirmen wiesen die Kritik zurück.
„Wir haben ein großes Problem, was Arzneimittelsicherheit betrifft“, sagte der als Pharmakritiker bekannte Forscher Glaeske. „Es ist nicht nur Verschwendung von Geld, sondern es ist auch eine Gefährdung von Patienten.“ Ärzte missachteten oft auch offizielle Empfehlungen und Warnungen. Der Arzneimittelreport der Krankenkasse Barmer GEK basiert auf Daten von rund neun Millionen Versicherten und ist nach Angaben der Kasse repräsentativ.
Demenzkranke bekommen demnach sechsmal häufiger Neuroleptika als Patienten ohne Altersverwirrtheit - obwohl die Beruhigungsmittel bei ihnen eine bis zu 1,7-fach erhöhte Sterblichkeitsrate verursacht. „Das Problem wird sich verschärfen“, mahnte Glaeske. Die Zahl der Dementen steigt laut Prognosen von heute 1,2 Millionen auf bis zu 2,5 Millionen im Jahr 2060.
Bei Menschen mit Pflegestufe drei bekämen die Hälfte der Demenzkranken diese Mittel - aber nur rund ein Drittel der anderen. „Hier gibt es leider Entwicklungen, die mit Menschenwürde nicht mehr in Verbindung zu bringen sind“, sagte Glaeske. Der Vorstand der Deutschen Hospiz Stiftung, Eugen Brysch, sprach von einem „Skandal“.
Zwischen 13 und 14 Prozent der rund 1,6 Millionen Alkoholabhängigen bekämen Schlafmittel, kritisierte Glaeske weiter. Frauen seien häufiger betroffen. „Das ist ein Kunstfehler, Abhängigen Benzodiazepin zu verordnen“, urteilte Glaeske. Besonders bei klinischem Entzug, aber auch bei Angst- und Schlafstörungen würden die Mittel verschrieben. Klassische Antidepressiva seien besser, weil sie nicht abhängig machten.
Der Report bemängelt zudem, dass viele vor allem junge Frauen Antibabypillen der jüngsten Generation mit neuartigen Hormonen (Gestagene) bekämen. Das Risiko von Gefäßverschlüssen liege hier doppelt so hoch wie bei älteren Präparaten, die ebenso gut wirkten. Wenn 100 000 Frauen die Mittel jeweils ein Jahr lang nehmen, komme es in rund 40 Fällen zu so einer Nebenwirkung. Dennoch bewerbe die Pharmaindustrie diese teureren Präparate massiv. Glaeske riet, „dass Frauen sehr viel mehr mit ihren Ärzten darüber sprechen“. Allein bei der Barmer GEK bekamen 2010 rund 245 000 Mädchen zwischen 11 und 19 Jahren hormonelle Kontrazeptiva verordnet.
Der Verband forschender Arzneimittelhersteller wies die Kritik Glaeskes zurück. „Alle Antibabypillen haben das Merkmal, dass sie das Thromboserisiko etwas erhöhen“, sagte Sprecher Rolf Hömke der dpa, „einige etwas mehr, andere etwas weniger.“ Nicht nachvollziehbar sei, dass die Studienautoren nur auf dieses Kriterium abzielten.
Die Kassenärztliche Bundesvereinigung warf den Studienautoren Pauschalisierung vor. Die Ärzte stützten sich bei ihren Verordnungen selbstverständlich auf die aktuellen medizinischen Leitlinien, sagte Sprecher Roland Stahl der dpa. Im durchregulierten Arzneimarkt seien die Freiheiten der Mediziner zudem beschränkt.
Bei den Ausgaben für Arzneimittel zeichnet der Report ein gemischtes Bild. Laut Barmer GEK-Vizechef Rolf-Ulrich Schlenker zeigen die Spargesetze der Regierung Wirkung. Angesichts eines Rückgangs der Arzneiausgaben um fünf Prozent im ersten Quartal betonte der Bundesverband der Pharmazeutischen Industrie, die Branche leiste den größten Sparbeitrag zugunsten der Kassen. Schlenker wies aber auf ein starkes Kostenplus bei gentechnisch hergestellten Mitteln (Biologicals) etwa gegen Rheuma, Multiple Sklerose oder Krebs hin. 2010 sei es hier zu Steigerungsraten bis zu 17 Prozent gekommen. Auf 0,8 Prozent aller Versicherten entfielen 30 Prozent der Ausgaben.