Hunderttausende demonstrieren gegen Atomkraft
Berlin (dpa) - Angesichts der Atomkatastrophe von Japan haben hunderttausende Menschen in Deutschland für einen sofortigen Atomausstieg demonstriert. In den vier größten deutschen Städten Berlin, Hamburg, München und Köln gingen jeweils zehntausende unter dem Motto „Fukushima mahnt: Alle AKWs abschalten“ auf die Straße.
Es waren mehr, als die Veranstalter zuvor erwartet hatten. Sie sprachen von 250 000 Teilnehmern - und den bisher größten Anti-Atom-Protesten in Deutschland. Um 14.15 Uhr gedachten die Teilnehmer mit einer Schweigeminute der Opfer von Erdbeben und Tsunami in Japan.
In Berlin zogen die Demonstranten mit Trillerpfeifen und Transparenten durch die Innenstadt. Die Polizei nannte weit mehr als 50 000 Teilnehmer, die Veranstalter 90 000. Die Protestierer schwenkten Transparente mit Aufschriften wie „Atomkraft zerstört Leben“ oder „Fukushima ist überall“. DGB-Chef Michael Sommer rief der Menge zu, es müsse einen raschen Umstieg auf erneuerbare Energien geben. „Die Lichter werden nicht ausgehen, wenn es in Deutschland keine Atomkraftwerke mehr gibt. Von 17 Meilern sind gerade mal vier voll am Netz“, sagte Sommer. „Und trotzdem ist genug Strom da.“
SPD-Chef Sigmar Gabriel sagte am Rande der Demonstration: „Die Menschen in Deutschland wollen den Atomausstieg. (...) Sie haben die Nase voll von den wahltaktischen Spielchen von Union und FDP.“ Grünen-Fraktionschef Jürgen Trittin erklärte: „Wir demonstrieren dafür, dass die alten Atomkraftwerke entschädigungslos abgeschaltet werden und die Laufzeitverlängerung zurückgenommen wird.“ Sein SPD-Kollege Frank-Walter Steinmeier sagte: „Wir Müssen zum Atomkonsens zurück.“
Für diesen Sonntag sagen Umfragen Grünen und SPD bei den Landtagswahlen in Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz Erfolge voraus. Die Atompolitik stand im Wahlkampf zuletzt immer mehr Fokus.
In Hamburg zählte die Polizei mehr als 40 000 Menschen, die Veranstalter 50 000. Damit übertraf die Teilnehmerzahl die Erwartungen der Veranstalter bei weitem. „Man spürt die Energie und die Wut bei den Leuten“, sagte der Sprecher der Anti-Atom-Initiative Ausgestrahlt, Jochen Stay. Triumphieren solle man nicht, die Ereignisse in Japan seien ein trauriger Anlass. „Wir werden jetzt nicht mehr locker lassen, bis die Atomkraftwerke endgültig stillgelegt werden.“
Auf ihrem Weg durch die Innenstadt skandierten die Demonstranten vor einer Filiale des Energiekonzerns Vattenvall die Parole „Vattenfall abschalten“. Einige trugen Schutzanzüge und Mundschutz. Unter den Teilnehmern waren viele Familien. „Es geht um die Zukunft der Kinder“, sagte eine Hamburger Mutter.
In Köln beteiligten sich nach Schätzung der Veranstalter rund 40 000 Menschen. Unter den Teilnehmern waren auch die nordrhein-westfälische Ministerpräsidentin Hannelore Kraft (SPD) und ihre Stellvertreterin Sylvia Löhrmann (Grüne). „Warum setzen uns die Bundesregierung und die Atomkonzerne weiterhin diesem tödlichen Risiko aus?“, fragte Christoph Bautz vom Aktionsbündnisses Campact. Mit Plakaten, Luftballons und Sprechchören zogen die Menschen vom Neumarkt in der Kölner Innenstadt ins rechtsrheinische Deutz.
In München versammelten sich trotz Regens nach Polizeiangaben mehr als 25 000 Menschen friedlich auf dem Odeonsplatz. Mit Sprechchören „Abschalten, Abschalten“ machte die Menge ihrem Unmut Luft. Es kamen am Nachmittag noch laufend Menschen dazu. „Atomenergie hat keine Zukunft“, sagte Bayerns IG-Metall-Chef Jürgen Wechsler. Der Kabarettist Urban Priol sagte: „Es ist schlimm, dass erst nach einer solchen Katastrophe alle aufwachen.“ Mehr als tausend Menschen bildeten in Würzburg eine Menschenkette um die Innenstadt. Viele Passanten reihten sich spontan ein, sagte ein Grünensprecher.
Zu den Demonstrationen hatten Anti-Atom-Initiativen, Umweltverbände, Globalisierungskritiker und Friedensorganisationen aufgerufen.