Kinderheime: Schilderungen aus der Dunkelwelt der 50er Jahre

Eine Studie beleuchtet erstmals die verstörende Behandlung behinderter Heimkinder. Ein Entschädigungsfonds kommt.

Gewalt war in den Kinderheimen der Kirchen zwischen 1959 und 1975 nicht unüblich. (Symbolbild)

Foto: dpa

Berlin. Fast 100.000 geistig oder körperlich behinderte Kinder waren in Deutschland von 1949 bis 1975 in Heimen der Kirchen untergebracht, viele von ihnen leben noch. Eine am Rande einer Fachtagung der Katholischen Akademie in Berlin vorgestellte Studie der Caritas schätzt, dass 70 Prozent der Betroffenen körperliche Gewalt erlitten, 60 Prozent psychisch drangsaliert wurden und 30 Prozent sexuellen Übergriffen ausgesetzt waren. Es ist die erste wissenschaftliche Aufarbeitung des verstörenden Themas.

Katholische wie Evangelische Kirche haben sich schon seit längerem zu ihrer Verantwortung bekannt. Er bedauere zutiefst, was geschehen sei und bitte um Entschuldigung, sagte der Kölner Kardinal Rainer Maria Woelki. Die Vertreterin der Deutschen Ordensobernkonferenz, Schwester Katharina Kluitmann, sprach von Scham über das, was auch Nonnen und Mönche getan hätten. "Dieses Versagen ist umso erschreckender, als es den hohen Idealen des christlichen Menschenbildes eklatant widerspricht".

Was in den Heimen passierte, hat die Studie anhand von Interviews mit Betroffenen minutiös aufgearbeitet. Beispiele: Die Betreuer waren mit viel zu großen Gruppen, oft 30 und mehr, überfordert und, worauf Kardinal Woelki in seiner Rede hinwies, zudem geprägt von den Erziehungsvorstellungen der Nachkriegszeit. "Die Nonne hatte so einen Gürtel in der Hand", schildert ein Betroffener in der Studie. "Da lag man wie ein Haufen da, und dann hat sie so lange draufgekloppt, bis dass sie keine Luft mehr hatte". Die Studie enthält hunderte solcher Schilderungen.

Oft musste der Größte und Stärkste in einer Gruppe bei Strafaktionen helfen. Hinzu kam körperliche Gewalt unter den Bewohnern. Sexualität, auch Selbstbefriedigung, war tabu und wurde rigoros bestraft: Mit Fesselungen ans Bett, Entzug von Essen, Einschließen. Die Heime waren abgeschlossen, es gab praktisch kein Entrinnen.

Es gab zwar oft Sonderschulen in ihnen, aber keine berufliche Ausbildung. Arbeit in Küche oder Garten musste unentgeltlich erledigt werden. Viele der Betroffenen hatten gar keine echte Behinderung. "Schwachsinn" oder "Idiotie" lauteten die Diagnosen, zum Teil schon, wenn ein Kind verhaltensauffällig war oder schlecht in der Schule. 25 Prozent der Befragten gaben an, nicht zu wissen, warum sie im Heim gelandet waren, zehn Prozent, dass sie nicht behindert seien. Meist kam die Empfehlung zur Heimunterbringung vom örtlichen Pfarrer.

Erst vor einer Woche beschlossen und Bund und Länder, dass es nun auch für die behinderten Heimkinder einen Entschädigungsfonds geben soll - mit sechsjähriger Verspätung. Der 2010 eingerichtete Heimkinderfonds galt nur für Nichtbehinderte; über Ausgleichszahlungen an die Behinderten hatte man sich wegen der Kosten nicht einigen können. "Kaum nachvollziehbar" nannte Kardinal Woelki das. "Alle haben Verständnis für die Problematik, aber keiner tut etwas."

Nach der Grundsatzentscheidung hofft die Katholische Kirche nun, dass die dafür vorgesehene "Stiftung Anerkennung und Hilfe" schnell ihre Arbeit aufnimmt. Die Betroffenen sollen eine pauschale Geldleistung in Höhe von 9.000 Euro erhalten sowie Rentenersatzzahlungen in Höhe von bis zu 5.000 Euro.