Koalition versucht umstrittenen Befreiungsschlag
Berlin (dpa) - Schwarz-Gelb versucht zum Start ins Wahljahr 2013 einen Befreiungsschlag: Praxisgebühr weg, Betreuungsgeld her, dazu ein Mini-Aufschlag für Mini-Renten. Mit den Beschlüssen des Koalitionsausschusses vom frühen Montagmorgen haben CDU/CSU und FDP die größten Streitpunkte aus dem Weg geräumt.
Opposition, Sozialverbände und Gewerkschaften sprechen von Wählerkauf. Auch die Arbeitgeber werfen der bürgerlichen Koalition schwere Fehler vor. SPD und Grüne wollen das Betreuungsgeld notfalls vor dem Bundesverfassungsgericht stoppen und bei einem Wahlsieg sofort wieder abschaffen.
Schon am Mittwoch sollen die Regelungen zur Umsetzung der Beschlüsse vom Kabinett verabschiedet werden. Der Bundestag soll das Betreuungsgeld am Freitag in dritter Lesung beschließen. Das gilt auch für die Abschaffung der Praxisgebühr.
CDU, CSU und FDP hatten zuvor monatelang über zentrale Eckpunkte ihrer Politik gestritten. Jetzt wird auf Druck der FDP die Praxisgebühr zum 1. Januar 2013 abgeschafft - neun Jahre nach der Einführung. Die Bürger sollen damit um rund zwei Milliarden Euro im Jahr entlastet werden. Eine Senkung der Kassenbeiträge - wie von der Union favorisiert - kommt dagegen nicht. Im Gegenzug stimmt die FDP dem CSU-Projekt Betreuungsgeld endgültig zu. Der Start wird allerdings auf den 1. August 2013 verschoben.
Zu dieser neuen Förderung sagte Bundeskanzlerin Angela Merkel, das Betreuungsgeld sei eine Alternative für die Eltern, die ihre Kinder nicht in eine Krippe geben wollten. „Wir wollen in der Gesellschaft keine Diskussion, wo wir sagen: Eigentlich muss sich derjenige entschuldigen, der sein Kind nicht in die Kita bringt“, sagte die CDU-Politikerin bei einer CDU-Konferenz in Bad Fallingbostel.
CDU-Generalsekretär Hermann Gröhe sagte, seine Partei finde sich als größter Koalitionspartner in den Beschlüssen „sehr gut wieder“. Die FDP wertete die Beschlüsse auch als Rückendeckung für Parteichef Philipp Rösler. Gesundheitsminister Daniel Bahr (FDP) verwies vor allem auf die von den Liberalen durchgesetzte Abschaffung der Praxisgebühr. „Die FDP kann mit dem Ergebnis sehr zufrieden sein.“
Dagegen kritisierte der designierte SPD-Kanzlerkandidat Peer Steinbrück: „Die Koalition verteilt Wahlkampfgeschenke.“ Die Wähler ließen sich aber nicht kaufen. Eine Linie zur Lösung der Probleme des Landes sei nicht zu erkennen. SPD-Chef Sigmar Gabriel sagte NDR Info, große Verlierer seien die Rentner.
Der DGB nannte es zynisch, eine Mini-Aufstockung von Mini-Renten als „Lebensleistungsrente“ zu bezeichnen. Die Sozialverbände SoVD und VdK nannten die Renten-Beschlüsse untauglich im Kampf gegen Altersarmut. Die Arbeiterwohlfahrt hielt der Regierung vor, sie erkaufe sich Koalitionsfrieden auf Kosten der Familien.
Für Arbeitgeberpräsident Dieter Hundt ist die Abschaffung der Praxisgebühr ein schwerer Fehler. Die schwarz-gelben Beschlüsse seien insgesamt enttäuschend. „Wer die Staatsfinanzen wirkungsvoll sanieren und mehr Netto vom Brutto schaffen will, darf keine neuen Wohltaten verteilen.“ Bundesärztekammer-Präsident Frank Ulrich Montgomery begrüßte dagegen das Ende der Praxisgebühr als Beitrag zum Bürokratieabbau.
Die Renten von Geringverdienern, die auch nach 40 Beitragsjahren und privater Zusatzvorsorge unter der Grundsicherung liegen, sollen aus Steuergeldern aufgestockt werden. Nach Angaben aus der Koalition dürften diese Renten anschließend etwa 10 bis 15 Euro über der Grundsicherung von durchschnittlich 688 Euro liegen. Die Union hob hervor, mit dieser Regelung werde der Gang zum Sozialamt vermieden. Nicht geeinigt hat sich die Koalition auf eine bessere Berücksichtigung von Kindererziehungszeiten bei der Rente. Hier wurde lediglich ein Prüfauftrag erteilt.
Das Betreuungsgeld soll zum 1. August 2013 und nicht wie geplant zum 1. Januar eingeführt werden. So will die Koalition etwa 750 Millionen Euro sparen. Zunächst soll es für Kinder im zweiten Lebensjahr 100 Euro monatlich geben, ab 2014 auch für Kinder im dritten Lebensjahr und anschließend für alle 150 Euro. Wer das Geld nicht ausgezahlt haben will, soll es auch zur privaten Altersvorsorge oder für das von der FDP geforderte Bildungssparen verwenden können. Dann soll es jeweils einen Zusatzbonus von 15 Euro im Monat geben.
In gleicher Größenordnung wie die Einsparungen beim Betreuungsgeld wird nun überraschend der Etat von Verkehrsminister Peter Ramsauer (CSU) ein zweites Mal nach 2011 aufgestockt. Das Geld soll vor allem für Neubauprojekte eingesetzt werden.
Für den angestrebten schnelleren Defizit- und Schuldenabbau müssen Union und FDP im Wahljahr 2013 ein Maßnahmenpaket von sechs bis sieben Milliarden Euro schnüren. Möglich werden soll dies unter anderem durch eine stärkere Kürzung des Bundeszuschusses an den Gesundheitsfonds oder den späteren Start des Betreuungsgeldes. Zudem sollen die Gewinne der staatlichen Förderbank KfW künftig für mehr Spielraum im Haushalt sorgen.