Kritisches Dossier zu Stuttgart 21 sorgt für Wirbel
Berlin/Stuttgart (dpa) - An der Zukunft des Bahnhofsprojekts Stuttgart 21 kommen neue Zweifel auf. Wegen der Kostenexplosion bei dem Prestigevorhaben gerät die Bahn nun auch beim Bund immer stärker unter Erklärungsdruck.
Der Eigentümer verlangt genauere Angaben, wie der Konzern Mehrkosten von 1,1 Milliarden Euro stemmen will, ehe der Aufsichtsrat grünes Licht geben kann. Vorerst fehle dafür die Basis. Verkehrsminister Peter Ramsauer (CSU) betonte zugleich, der Bund stehe zum Projekt. Der Bundesrechnungshof will die Kosten prüfen.
In einem Dossier des Ministeriums für einen Workshop des Bahn-Kontrollgremiums am Dienstag wurden zahlreiche kritische Punkte aufgelistet. Darin heißt es nach Informationen der „Stuttgarter Zeitung“ (Dienstag) und der Nachrichtenagentur dpa: „Die Argumente, eine weitere Finanzierung nicht abzulehnen, sind zu schwach.“ Um die Mehrkosten bewerten zu können, müssten auch Alternativen bis hin zum Ausstieg ernsthaft untersucht werden.
Kritisiert wird, dass die Bahn die anderen Projektbeteiligten - darunter das Land Baden-Württemberg und die Stadt Stuttgart - noch nicht offiziell kontaktiert habe. Nötig sei ein „belastbarer und geprüfter“ Gesamtwertumfang des Projekts mit einer angemessenen Risikovorsorge. Den bisherigen Informationen zufolge könne sich ein Betriebsstart wegen möglicher Planungsänderungen sogar bis 2024 hinziehen. Bislang wird angestrebt, dass die ersten Züge 2020 durch den neuen Tiefbahnhof rollen.
Ramsauer trat dem Eindruck entgegen, der Bund distanziere sich damit von Stuttgart 21. „Das ist Quatsch“, sagte er dem ZDF am Rande einer Konferenz in Bagdad. Dem „Handelsblatt“ (Mittwoch) sagte der CSU-Politiker: „Ich habe gesagt, dass der Punkt wahrscheinlich überschritten ist, die Grundsatzfrage zu stellen.“ Trotz aller Kritik stehe er weiter zu dem Vorhaben. „S 21 ist kein Bundesprojekt, ich halte es aber nach wie vor für sinnvoll.“ Ein Ministeriumssprecher erläuterte in Berlin: „Dem Bund geht es um eine offene Debatte. Dies bedeutet aber kein "Abrücken" vom Vorhaben selbst.“ Als Eigentümer der Bahn müsse der Bund allerdings „sicherstellen, dass Schaden vom Unternehmen DB AG abgewandt wird“. Daher sei der Fragenkatalog nun abzuarbeiten.
Aufsichtsräte des Konzerns kamen am Dienstag zusammen, um über das weitere Vorgehen wegen der Mehrkosten zu beraten. Die Bahn hatte im Dezember mitgeteilt, dass sich der Finanzierungsrahmen für Stuttgart 21 um 1,1 Milliarden auf 5,6 Milliarden Euro erhöhe. Diese Mehrkosten will die Bahn tragen. Dazu kämen Risiken von 1,2 Milliarden Euro, für die sie nicht die Verantwortung übernehmen will. Entschieden werden soll über eine Übernahme der Mehrkosten in einer regulären Aufsichtsratssitzung voraussichtlich Anfang März.
Baden-Württembergs Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Grüne) sagte: „Wir eröffnen keine Ausstiegsdebatte.“ Die grün-rote Landesregierung fühle sich an die Volksabstimmung gebunden, bei der sich eine Mehrheit gegen einen Ausstieg des Landes aus der Finanzierung gewandt hatte. Kretschmann machte aber klar, dass das Land nicht mehr als die vorgesehenen 930 Millionen Euro zahlen werde.
Der Bundesrechnungshof will die Finanzplanung des Projekts unter die Lupe nehmen. „Wir werden jetzt genau hinschauen, wie sich die Kosten von Stuttgart 21 entwickeln und welche Kostensteigerungen hinzu kommen“, sagte Präsident Dieter Engels der „Welt“ (Dienstag).
Die SPD forderte belastbare Berechnungen. Für die Entscheidung, ob das Projekt noch umsetzbar sei, müsse auch ein realistisches Ausstiegsszenario berechnet werden, sagte der verkehrspolitische Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion, Sören Bartol, der dpa. „Dazu muss der Aufsichtsrat unabhängige Experten beauftragen, die die Zahlen der Bahn überprüfen.“ Die Grünen-Fraktionschefin im Bundestag, Renate Künast, sieht auch Kanzlerin Angela Merkel (CDU) bei der Aufsicht in der Verantwortung: „Sonst erleben wir ein zweites finanzielles Desaster wie beim Berliner Flughafen BER.“
Der SPD-Fraktionschef im Stuttgarter Landtag, Claus Schmiedel, sieht in dem Dossier einen Versuch, das Projekt in der Öffentlichkeit schlechtzumachen. „Das ist gezielte Stimmungsmache“, sagte er der dpa. Schmiedel warnte vor einem Ausstieg, der nach seinen Angaben mehr als drei Milliarden Euro kosten würde.
Ärger zieht sich die Bahn wegen Stuttgart 21 auch im Bundestag zu. Der Verkehrsausschuss will Aufsichtsratschef Utz-Hellmuth Felcht zu den Mehrkosten befragen und hat ihn mehrfach vergeblich zu Sitzungen eingeladen. Nun bot der Chef-Kontrolleur den Obleuten der Fraktionen nach dpa-Informationen an, zu einem Meinungsaustausch in die Bahn-Zentrale zu kommen. Die SPD-Fraktion beharrte weiter darauf, dass Felcht dem gesamten Ausschuss Rede und Antwort steht.