Merkel zwischen Pest, Cholera und Neuwahlrisiko

Der Kanzlerin bleiben jetzt nur noch drei schlechte Möglichkeiten — Steinmeier appelliert an Verantwortung der Parteien.

Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) nach einem Gespräch mit Bundespräsident Steinmeier Schloss Bellevue in Berlin.

Foto: Michael Kappeler

Berlin. Die Staatskrise ist da. Sogar Frankreichs Präsident Emmanuel Macron hat schon seine Besorgnis über die Lage in Deutschland geäußert. Genau zwölf Stunden nach dem Scheitern von „Jamaika“ saß Bundeskanzlerin Angela Merkel Montagmittag im Schloss Bellevue mit Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier zusammen. Was nun, Frau Merkel, dürfte der gefragt haben. Die CDU-Chefin hat noch drei Möglichkeiten: Eine Große Koalition mit der SPD, eine Minderheitsregierung mit Grünen oder Liberalen sowie Neuwahlen. Keine davon hat sie allein in der Hand und keine ist prickelnd.

Steinmeier machte den Ernst der Lage bei einem Presseauftritt am Nachmittag deutlich: Eine solche Situation habe es in 70 Jahren noch nicht gegeben. „Das ist der Moment, in dem alle Beteiligten noch einmal innehalten und ihre Haltung überdenken sollten.“ Die Parteien seien dem Gemeinwohl verpflichtet, appellierte er. „Ich erwarte von allen Gesprächsbereitschaft.“ Er werde noch mal mit den Jamaika-Parteien und mit der SPD reden.

Nicht wenige interpretierten Steinmeiers Sätze als Aufforderung an die eigene frühere Partei, die SPD. Denn mit dem Scheitern von Jamaika richtete sich der Blick sofort auf die Möglichkeit einer großen Koalition, die die SPD seit dem Wahlabend jedoch kategorisch ausgeschlossen hatte. Aber die Sozialdemokraten wollen noch immer nicht. Die Wahl vom 24. September sei eine eindeutige Absage an die Große Koalition gewesen, sagte Parteichef Martin Schulz. „Wir scheuen Neuwahlen nicht.“ Fraktionschefin Andrea Nahles betonte ebenfalls, dass ihre Partei eine neue Große Koalition nicht eingehen werde. Man werde sich aber Gesprächen zur Lösung der Krise nicht versperren. Die Verantwortung dafür liege bei Angela Merkel. Am Mittwoch will Schulz mit Steinmeier zu einem Gespräch zusammentreffen. Angela Merkel sagte, vom Ergebnis dieses Gesprächs werde abhängen, ob sie noch einmal auf die SPD zugehe.

Theoretisch könnte Merkel auch eine Minderheitsregierung bilden. Sie wolle zwar nicht „niemals“ sagen, meinte die Kanzlerin dazu Montagabend. Aber Deutschland müsse stabil regiert werden. Denkbar wären die Grünen als Partner der Union. Immerhin sind sich die beiden Seiten in den wochenlangen Gesprächen sehr viel näher gekommen als bisher. Der Amerika-Beauftragte der Bundesregierung und CDU-Abgeordnete Jürgen Hardt schlug bereits vor, eine solche Minderheitsregierung auf der Basis der Verhandlungsergebnisse wenigstens für eine Übergangszeit zu bilden. „Ein klares schwarz-grünes Regierungsprogramm würde auch den Bundespräsidenten überzeugen, das Wagnis einer Minderheitsregierung einzugehen“. Einer solchen Regierung würden im Bundestag jedoch 42 Stimmen fehlen. Sie wäre nicht stabil.

Die andere Variante, eine Minderheitsregierung mit der FDP haben die Liberalen in der Nacht zum Montag ziemlich verbaut. Ihr Verhalten hat bei den Christdemokraten Kopfschütteln und Verärgerung hinterlassen. „Es gab keinen rationalen Grund zu gehen“, sagte CDU-Generalsekretär Peter Tauber. Die Kanzlerin müsste bei einer Minderheitsregierung mit der FDP nicht nur die fehlenden 29 Stimmen suchen, sondern immer auch noch mit der Unberechenbarkeit des liberalen Partners rechnen.

Bleiben Neuwahlen. Sie kann nur der Bundespräsident einleiten. Der aber betonte am Montag, man könne die Verantwortung nicht einfach an die Wähler zurückgeben. Steinmeier will diesen Ausweg so schwer wie möglich machen. Das Verfahren ist zudem kompliziert. Würde es noch vor Weihnachten eingeleitet, könnte es frühestens Ende Februar zu neuen Bundestagswahlen kommen. Vorher muss Merkel zwei Mal eine absolute Mehrheit im Bundestag verfehlen. Zwei Mal würde Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble also verkünden: „Die Kandidatin Angela Merkel hat die erforderliche Mehrheit nicht erreicht“, ehe sie dann wahrscheinlich im dritten Wahlgang zur Minderheitskanzlerin gewählt werden würde. Dann erst könnte Steinmeier über Neuwahlen entscheiden.

Dieser lange und komplizierte Prozess könnte in der Union leicht die Debatte aufflammen lassen, ob man tatsächlich ein fünftes Mal mit der 63jährigen Langzeitkanzlerin antreten soll, zumal das Wahlergebnis so schlecht war. Allerdings, sie selbst will dann erneut kandidieren, wie sie Montagabend im ZDF erklärte. Sie habe im Wahlkampf gesagt, sie trete für weitere vier Jahre an, da wirke es „komisch“, wenn sie jetzt nach zwei Monaten einen Rückzieher machte, sagte die CDU-Politikerin. Im Moment ist die Union in dieser Frage geschlossen. Sonntagnacht, als Angela Merkel vor die Kameras trat und das Scheitern kommentierte, stand die gesamte Führung von CDU und CSU hinter ihr und applaudierte demonstrativ. Und Ausgerechnet Horst Seehofer lobte ihre Verhandlungsführung: „Danke, Angela Merkel.“